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Mord wegen 150 Mark?

■ Prozeß gegen einen Seemann/ Geständnis widerrufen/ "Habe mit der Sache nichts zu tun"/ Schützt der Angeklagte den wirklichen Täter?

/ Geständnis widerrufen / »Habe mit der Sache nichts zu tun« / Schützt der Angeklagte den wirklichen Täter?

Es wird mit Sicherheit ein schwieriger Prozeß, bei dem die Wahrheit wohl kaum zutage zu fördern sein wird: Seit gestern muß sich der Seemann Christian Reno St. vor der Großen Strafkammer21 des Landgerichts Hamburg verantworten. Der Vorwurf: „Mord aus Habgier“. Dem 26jährigen „Matrosen ohne Brief“ wird von der Anklage vorgeworfen, während eines Landurlaubs am 31. Januar 1992 in Hamburg-Wilhelmsburg einen 78jährigen Rentner in dessen Wohnung wegen 150 Mark durch mehrere Messerstiche in Rücken und Hals getötet sowie anschließend beraubt zu haben.

Christian St. ist ein einfacher Mann, mit einer ungeregelten Kindheit, ohne Zuhause. Als Sohn eines Fernfahrers wurde er zunächst in Italien eingeschult, zog dann nach Österreich, Frankreich, Bayern und schließlich nach Schleswig-Holstein. Mit 14 Jahren verließ er die Schule ohne Abschluß und heuerte auf einem Schiff als Messejunge an. In den letzten zehn Jahren brachte er es zum Matrosen, allerdings ohne das nötige Zertifikat (Matrosenbrief) zu besitzen. Christian St. hat einen unehelichen Sohn, der bei der Mutter in Schottland lebt. Auf See gewöhnte er sich auch das Trinken an, mal mehr und mal weniger. Christian St.: „Während der Arbeitszeit habe ich nicht getrunken, weil ich Verantwortung hatte, nur abends mal zwei, drei Bier. Im Urlaub hab' ich dann aber zugeschlagen — bis zu einer Kiste Bier am Tag.“

Was ereignete sich nun am 31. Januar in der Wohnung des Rentners tatsächlich? Dieses zu rekonstruieren dürfte nur mit Mühe möglich sein, denn die bisherigen Angaben sind äußerst widersprüchlich. Zwar hatte St. vor der Polizei zunächst ein Geständnis abgelegt, es aber später pauschal widerrufen. Er will den Rentner nur tot aufgefunden haben. Und auch gestern vor Gericht wollte der Angeklagte zuerst keine Aussage machen. „Ich werde erstmal nichts sagen.“ Und am gestrigen Nachmittag sagte er plötzlich: „Ich habe mit der Sache nichts zu tun. Ich habe ihn nicht niedergestochen.“

Nach Angaben seiner Verteidigerin Martina Zerling ist es durchaus denkbar, daß sich alles ganz anders zugetragen hat: „Es kommen auch andere Personen als Tatverdächtige in Betracht, nur ist es schwer, diese Wege weiterzuverfolgen.“ In der Tat: Es gibt zum Beispiel in den Ermittlungsakten Hinweise, daß St. möglicherweise die Schuld vor der Polizei auf sich genommen habe, um seine 19jährige Schwester Rebecca zu schützen, und somit ihren dreijährigen Sohn, seinem Neffen, eine Heimunterbringung zu ersparen. Nach dieser Version soll nämlich die Schwester den Rentner aus Notwehr getötet haben, weil dieser sie sexuell belästigt habe. Für Martina Zerling eine eher unglaubliche Variante. Eine Notlüge, um Christian St. zu schützen?

Überraschung herrschte gestern über die Ankündigung des Gerichts, den Fall womöglich nicht als Mord, sondern als Raubüberfall mit Todesfolge zu behandeln. Der Prozeß wird am Dienstag fortgesetzt. Peter Müller

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