: Die Quadratur der Mächte
■ Premiere im Hebbel-Theater: Tatjana Orlobs »Living In The Shoe« und »In Between«
Im Jahr 1988, als das damalige West-Berlin Kulturhauptstadt Europas war, rief die jetzige Leiterin des Hebbel-Theaters Nele Hertling eine internationale Tanz-Werkstatt ins Leben. Tänzer und Tänzerinnen aus dem Ausland und aus Berlin stellten ihre Inszenierungen vor und tauschten Erfahrungen aus. Diese Initiative konnte über die Jahre hinweggerettet werden und hat durch die Anbindung an die neugegründete Berliner Kultur-und Veranstaltungs- GmbH (Podewil) seit 1991 eine feste finanzielle Basis gefunden.
In Zusammenarbeit mit dem Hebbel-Theater veranstaltet die Tanzwerkstatt in den nächsten drei Wochen an verschiedenen Orten der Stadt Tanztheateraufführungen, Gesprächsforen, Werkstattprojekte und Workshops, Titel: »Tanz im August«.
Eröffnet wurde die Aufführungsreihe im Hebbel-Theater am Wochenende mit zwei Solotänzen von Tatjana Orlob, einer Tänzerin, die seit Jahren in Berlin arbeitet. Unter den Titeln »Living In the Shoe« und »In Between« zeigte sie Samstag und Sonntag zwei eigene Choreographien, die sich durch technische und körperliche Perfektion auszeichneten, in ihrer Ausstrahlung aber oft kühl und distanziert blieben. »Living In the Shoe« ist ein einprägsames Stück von fünfzehn Minuten, in dem eine Frau durch das Tragen von Schuhen eine Verwandlung erfährt. Beklemmungen und Unsicherheiten lösen sich auf; ein Traum wird geträumt, Wünsche werden erfüllbar.
Mit einem Rucksack beschwert, aus dem später die Schuhe gezaubert werden, versucht die Tänzerin, Raum zu gewinnen, sich fortzubewegen. Die körperliche Haltung drückt Angst aus, aber auch gespannte Konzentration. Fast wacklig auf den Beinen, behindert durch Strümpfe, die weit über die Fußspitzen hinausschlenkern, bleiben die Bewegungen klein, nur angedeutet. Die Musik wechselt von asiatisch klingenden Tönen zu scharfen Rhythmen; plötzlich fallen ihr die Schuhe ein, und sie schlüpft hinein. Ein wilder Tanz mit immer schneller werdenden Bewegungen und Drehungen folgt, und die unterkühlte Distanz zu der Frau auf der Bühne ist aufgehoben. Der Kopf ist ausgeschaltet, da läßt sich jemand vollkommen los, kindliche Freude ist zu spüren. Die eklig schwarzen Strümpfe werden von den Beinen gerissen. Ein ekelerregender und zugleich sinnlicher Vorgang. Aber Träume währen eben nie lange genug. Schnell ist es wieder vorbei. Die Tänzerin fällt in ihre introvertierte Haltung zurück und ist die kleine graue Maus vom Beginn.
»In Between« besteht aus vier Teilen, die über den ewigen Widerspruch zwischen Zwängen von außen und eigenen Ansprüchen erzählen. Ein Mensch macht sich auf den Weg, gerät zwischen die Fronten seines eigenen Willens und der Mächte, die in den festgelegten Normen seiner Umwelt hausen. Die Choreographie von Tatjana Orlob geht vom eigenen Körper aus und führt in größere Zusammenhänge. Sie spricht eine klare, formale Bewegungssprache. Aber die ungeheure Spannung, die sie erzeugt, fällt sofort ab, wenn die Form sich auflöst und durch Äußerlichkeiten ersetzt wird. Da entstehen Längen, die durch konsequentere Durchführung vermieden werden könnten.
Die Tänzerin, bekleidet mit einem Kostüm, das an asiatischen Kampfsport erinnert (weite schwarze Hose und weißes, geknotetes Hemd) schreitet den Raum in klaren geometrischen Formen ab. Klassische Tanzschritte verändern sich zu einem weit ausholenden, fast stampfenden Gang. Das abgeschrittene Quadrat wird kleiner, die Figur zieht sich auf sich selbst zurück und bricht am Ende auf dem Boden zusammen. Im zweiten Teil wird die Darstellerin zur Puppe, die von oben gelenkt wird. Eine Lichtprojektion deutet ein Kirchenfenster an, der Raum wird weit und groß. Die Tänzerin bewegt sich im Wechsel von Fallenlassen und Wiederaufrichten.
In blauem Licht setzt ein Sirenenton in einer Frequenz ein, die man mehr spürt als mit den Ohren aufnimmt. Der Ton frißt sich in den Kopf ein und nimmt kein Ende. Währenddessen verreibt die Tänzerin auf ihrem nackten Oberkörper eine schmierige Masse — blaue Farbe. Was folgt, gleicht einem Tanz zur Geisterbeschwörung. Die Tänzerin unterwirft fremde Kräfte und führt sie in ihrem Körper zusammen. Auffällig sind bei Tatjana Orlob bestimmte Details, die im Gedächtnis bleiben. Eine Handbewegung, ein bestimmtes Drehen des Kopfes sorgen dafür, daß die Bewegungen sinnlich erlebbar werden und eine emotionale Verbindung zum Publikum herstellen.
Die in den ersten Teilen noch klar erkennbare Frau wird zum Neutrum, zum Individuum an sich. Der Rückhorizont wird tiefrot und allmählich durch den schwarzen Vorhang verdeckt. Lichtflecke entstehen auf dem Boden, die sich verändern, und zwischen denen für die Tänzerin keine Orientierung möglich scheint. Der Körper hat sich verausgabt, mühsam versucht er, sich zu behaupten gegen einen Widerstand, der ihn am Ende besiegt. Sibylle Burkert
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