piwik no script img

Protokoll einer Entscheidung

Ellsworth Kelly: die Erfindung der amerikanischen Malerei aus den Markisen von Paris. Eine Frühwerk-Retro in Münster  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Angenommen, daß Ellsworth Kelly nichts erfunden hat, dann aber doch sich selbst. Sein Wille ist in der Klarheit der Farben zu sehen: die leuchtenden Monochrome auf der documenta zum Beispiel, oder die rote Form im Lichthof des Westfälischen Landesmuseums in Münster. Die Formen — geschwungene, geschliffene Trapeze — zeigen wörtlicher als man erwarten kann die Abweichung, Dissenz und Dissidenz. Es sind Stücke von ungeheurer Autorität; der Zugriff ist klassisch, nicht das Maß. Kelly entwirft die Stücke, er malt sie nicht mehr selbst: ganz und gar Künstler dieser Zeit.

Immer noch gilt Kelly als Randfigur des Abstrakten Expressionismus, jener Kunst, die aus dem Nebel des Vergessenen in aller Deutlichkeit herausgetreten ist: Rothko wurde groß in Europa gezeigt, vor wenigen Jahren, Ad Reinhardt gerade in Amerika: „Kunst ist Kunst, und alles andere ist alles andere.“

Kelly ist Kelly. Aufgewachsen in einem Städtchen im Staat New York, hat er gerade ein Jahr am Pratt Institute in Brooklyn Kunst studiert, als er einberufen wird; mit gerade 21 Jahren gehört er zu den amerikanischen Befreiern Frankreichs, und unter Nutzung des „GI Bill“, einer großzügigen Ausbildungsförderung für ehemalige Soldaten der US-Streitkräfte, kehrt Kelly im Herbst 1948 in die Malerstadt Paris zurück. Knapp verpaßt er die Anfänge der „New York School“ im eigenen Land.

Was folgt, sind sechs Jahre in einem freiwillig gewählten Exil. Hier, wo Picasso regiert, gedenkt Kelly ihn zu überwinden. Er hat ein paar Ausstellungen, aber er verkauft nur zwei Bilder. Deshalb hatte Kelly das gesamte Material parat für eine Ausstellung „Die Jahre in Frankreich 1948-1954“, die von der Galerie nationale du Jeu de Paume nach Münster übernommen wurde.

Also die Retrospektive eines Anfangs, deren Anfang wiederum nicht ohne Komik ist, die ikonisierenden und leicht kubifizierenden Akte und Porträts, rührende Beispiele tätigen Irrtums. Dann sieht man sehr bald seine Neigung zu reduktiven Formen, Mustern, Umrissen, eine Tulpe in schwarz auf weiß wie ein Verkehrsschild. Schon nach einem Jahr erzielt Kelly den Durchbruch, auch wenn es ihm nicht sofort bewußt ist: In einer Kombination von einem mehrfach geteilten schwarzen Holzrahmen, den er beim Tischler in Auftrag gibt, und eingelegter Leinwand rekonstruiert der junge Maler die Außenansicht eines Fensters des Musée d' Art Moderne. Und schon ist der Maler kein Maler mehr. Deutlicher könnte er wohl kaum zum Ausdruck bringen, daß ein Paradigmenwechsel in der Kunst nie im Museum stattfindet, und andererseits bleibt das Museum der Bezugs-Rahmen der selbsternannten Moderne, die sich leidenschaftlich in Frage stellt. Das Bild steht, Anfang der fünfziger Jahre (die Pop-art noch nicht einmal am Horizont) in Kellys Hotelzimmer herum und nennt sich „Black and White Relief“.

Es ist ein Bündel von Fragen, noch lange keine Antwort. Es ist ein gefundenes Objekt, in anderem Material und nicht nur von eigener Hand rekonstruiert; es ist nicht mehr nur Bild, aber auch nicht das immerhin zu denkende Ende der Malerei; zweifellos aber ein Kommentar auf das „Fenster“ der Renaissance, den Ausblick in die Natur, hier verdreht als verstellter Blick in ein Gebäude, das nicht irgendeins ist. Schon ironisch, aber noch etwas ratlos artikuliert das „Ding“ (das Relief) Kellys Frage, was man mit einem Bild tun müsse, bis es nicht mehr darstellend sei. Klug wie er ist, glaubt er nämlich nicht der Propaganda, die abstrakte Malerei per se für nicht figürlich hält. Das erscheint heute ja als die große Schwäche der Ecôle de Paris, die damals so in Mode war: Auch die Geste reproduziert den Körper des Malers. Mit dem Beelzebub läßt sich der Teufel nicht austreiben.

Das auf den ersten Blick schönste Blatt der Ausstellung in Münster ist eine Gouache von 21 Zentimetern Breite, die eine Folge von sieben Vertikalen zeigt, sieben Stäbe, im oberen Bereich hellblau. Mal steigt das Hellblau bis zur Mitte herunter, mal deckt es sieben Achtel des Stabs. Die verbleibenden Flächen (in weiß) sehen aus wie das zeichnerische Protokoll verschiedener Messungen mit einem Thermometer. Tatsächlich ist es die Wiedergabe einer Folge von Markisen von offenbar sehr schmalen Fenstern in der Avenue Matignon. Sieht man die blauweißen Stäbe als Skizzen für spätere Gemälde, erscheint das Formproblem dieser projektiven Bilder als das, was Kelly fortan beschäftigt hat: das Verhältnis von Bild und Grund.

So liest sich die Ausstellung als Protokoll einer Entscheidung, als nicht immer konsequente Versuchsanordnung, mit dem noch unartikulierten Ziel, den Dingen ihren Platz zu geben und gleichzeitig die Geschichte der Mimesis paketweise abzuwerfen. Eine Übung im freien Fall, noch irritiert durch das Erbe der Surrealisten, das Kellys Freund Ralph Coburn ihm vermittelt. Die Vorstellung, daß sich das Kunstwerk an der inneren Welt bereichert, der Prozeß des Schaffens als Automatismus. Kelly zeichnet mit geschlossenen Augen und erkennt, daß man den Unterschied nicht erkennt.

John Cage, eine Zufalls-Bekanntschaft, hilft Kelly, am Körper-Geist- Dualismus weiterzusägen. Kelly fischt jetzt aus einem Hut kleine Quader, schwarz (50Prozent) oder farbig (50Prozent), die er in der Reihenfolge der schuldlosen Wahl zu einer Collage klebt (von oben links nach rechts unten) und anschließend als Ölbild ausführt: „Spectrum Colors Arranged by Chance“. Aber stärker als die dürre Ernte des Zufalls ist ein schwarzweißes Bild, dessen zwanzig Teile er mit einem Freund im Atelier al gusto arrangiert und für immer so beläßt („Cité“). Die Kombination der ungleichen Zebra-Elemente macht den Schnitt sichtbar: von der Handschrift bis zu ihrer Auslöschung, vom inneren Prinzip eines Bilds zu seinem definitiven Ende — das die Wand ist.

Das GI-Bill ist längst ausgelaufen, und Kelly arbeitet an einer amerikanischen Schule in Neuilly, die ihm kündigt, als er in einer Ausstellung als abstrakter Maler in Erscheinung tritt; dann ist er Nachtwächter, bis ein Schweizer Fabrikant ihn auffordert, Muster zu entwerfen, was Kelly tut. Im Herbst 1953 wird ihm das Atelier gekündigt, im Winter liest er eine Besprechung einer Reinhardt- Ausstellung in New York. Im Sommer 1954 kehrt Kelly an Bord der „Queen Mary“ nach Amerika zurück.

Er wird dort nicht ganz so grandios empfangen, wie er gehofft hatte. Ellsworth Kelly wird nicht einfach einer der großen amerikanischen Maler „nach dem Krieg“. Ein bis zwei Generationen jünger als Rothko, Newman oder Motherwell und knapp eine Generation älter als Warhol und Stella, bleibt Kelly ein Außenseiter, dem sein riskanter Start in der erlöschenden europäischen Monopole nicht gedankt wird. Seine Art von Abgeklärtheit wirkt fast störend im Kontext einer „autonomen“ Malerei, deren religiöse Wurzeln schon damals kein Geheimnis waren. Während seine Malerei die Herkunft der Motive bis zur Nichtidentifizierbarkeit verstellt, macht Kelly nun deutlich, daß seine Ideen aus dem Reich der Gegenstände entstammen; daß die Malerei eher ein Prozeß der Entleerung ist als der Versenkung. Nun offenbart Kelly seinen Zusammenhang mit strategischen Positionen in der Kunst dieses Jahrhunderts (sein verdeckter Zugriff auf das ready made, seine intuitive Abwendung von normativen Malerprogrammen), und das „Black and White Relief“ bekommt (wie etliche andere Werke) einen neuen Namen, der den Fundort bezeichnet: „Window, Museum of Modern Art, Paris“. (Er hat es bis heute nicht verkauft.)

„Ellsworth Kelly. Die Jahre in Frankreich 1948-1954.“ Westfälisches Landesmuseum, Münster. Bis zum 23.August. Katalog (mit gründlichen Essays), 212Seiten, im Museum 48Mark.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen