: Der rapide Verfall lyrischer Maßstäbe: niederschmetternd
■ Über zwei neue deutsche Gedicht-Anthologien: nicht mal ordentlicher Kitsch und zwanghafter Unernst
Man kann mit Sicherheit sagen“, notierte Alfred Andersch 1956 in seiner Zeitschrift Texte und Zeichen, „daß sich heute in Deutschland ein sehr großer Personenkreis mit dem Abfassen von Gedichten beschäftigt... Ich versichere, daß mir jegliche Ironie fernliegt, wenn ich es wage, diese Erscheinung als eine Art von geistigem Volkssport zu bezeichnen, vergleichbar dem Laienspiel in der Hausmusik früher und dem Jazz heute.“ Anderschs „lyrische Demoskopie“ aus dem Jahr 1956 kann auch für das Jahr 1992 unverändert Geltung beanspruchen. Mit dem feinen Unterschied freilich, daß sich mittlerweile das „artistische Massenhobby Lyrik“ (Andersch) noch weiter verbreitet hat bei gleichzeitigem rapiden Verfall der poetischen Maßstäbe. Die Leidtragenden dieser Entwicklung sind alljährlich die Herausgeber des bei Luchterhand erscheinenden „Jahrbuchs der Lyrik“. Von Jahr zu Jahr wächst ihr Verdruß angesichts riesiger Berge von Manuskripten, die von dilettierenden geistigen Volkssportlern eingesandt werden. In einem wirklich niederschmetternden Nachwort gesteht der diesjährige Mitherausgeber Thomas Rosenlöcher seine „völlige Zerknirschung“: „Nicht, weil da so viel Kitsch wäre, sondern eher umgekehrt: Es gibt kaum noch ordentlichen Kitsch. Dafür aber stapelweise Sachen, die mich vollkommen ratlos zurücklassen.“ Es ist insofern erstaunlich, daß Rosenlöcher und der ständige Jahrbuch-Supervisor Christoph Buchwald eine respektable Anthologie zusammengebastelt haben. Freilich muß man diesmal die „Entdeckungen, Überraschungen und schrägen Stimmen“ (Buchwald) aus der jüngeren Lyrikergeneration mit der Lupe suchen. Die ebenso braven wie belanglosen Erzählgedichte der Jahrbuch-Neulinge Walle Sayer und Christoph Zehntner können jedenfalls nicht zu den „schrägen Stimmen“ gerechnet werden. Auch wenn der junge Dichter Michael Lentz kalauernd „erstmal zehne biere trinken“ muß, „das gedankenbös/ sinntvoll zu ordnen“, stellt sich keine poetische „Überraschung“ ein. „Im großen und ganzen/ sind die Geschichten erzählt“, bilanziert Christel Mertens, „von den Einzelheiten abgesehen.“ Leider bekommen die jüngeren Jahrbuch-Autoren weder das große Ganze noch die Einzelheiten richtig in den Blick. Selbst wenn der vielbewunderte Bert Papenfuß- Gorek „die blockwarte, oberaufseher & generalsekretäre“ der DDR demontieren will, dann schleicht sich so mancher Gemeinplatz ein. Es sind eindeutig die älteren Autoren, wie Jürgen Becker, Peter Rühmkorf, Wolfgang Hilbig und Adolf Endler, die das Jahrbuch vor dem Absturz ins öde Mittelmaß bewahren. So wird von den nie versiegenden Lästerzungen Adolf Endlers und Peter Rühmkorfs beispielhaft vorgeführt, wie sich das Gedicht als Kunstgebilde ironisch selbst unterminiert.
Diese Fähigkeit aber, selbstironisch den Ast abzusägen, auf dem man als Lyriker sitzt, erhebt Axel Maria Marquardt, der selbsternannte deutsche Meister im Fliegengedicht, in seinem Haffmans-Lesebuch „100 Jahre Lyrik!“ zum zentralen Qualitätskriterium für moderne Lyrik. „Wer heute nicht in jedem seiner Gedichte auch gleichzeitig dessen Relativierung spüren läßt, ist für den Kanon verloren.“ Mit dieser Definition, mit der Verpflichtung des Gedichts aus Ironie, Skepsis und Distanz hat Marquardt einen großen Teil etablierter Lesebuch-Dichtung gleich vorab disqualifiziert. Emphatische Naturlyrik, Sprachmagie, Pathos und Feierlichkeit jeder Art bleiben ausgeschlossen. Wo Marquardt einen hohen Ton vernimmt, da zieht er gleich die Rote Karte: So werden Rilke, George und Hofmannsthal ebenso zu „schlechten“ Autoren degradiert wie Nelly Sachs, Peter Huchel, Ingeborg Bachmann oder — als Variante des politischen Predigers — Erich Fried. Mit seinem angriffslustigen Plädoyer für das „lesbare“, mit „Eros und Humor“ gewürzte Gedicht will Marquardt auch einige heilige Kühe des deutschen Expressionismus schlachten. Wenn er dabei statt der „O Mensch“-Pathetiker und „expressionistischen Mitläufer“ vom Schlage eines J.R. Becher die rebellischen Außenseiter und illusionslosen Zyniker, wie zum Beispiel Georg Kulka, Wilhelm Klemm oder Jakob Haringer empfiehlt, rennt er massenweise offene Türen ein. Denn auch die akademische Expressionismusforschung hat allmählich begriffen, daß die einstigen Randfiguren von Dada und Expressionismus, wie Kulka und Haringer, wie Johannes Theodor Baargeld, Friedrich Wilhelm Wagner und John Höxter als Wegbereiter einer modernen Großstadt- und Bewußtseinspoesie gelten können. Je mehr sich Marquardt der Gegenwart nähert, desto fragwürdiger wird seine Auswahl. Getrieben von seinem Anspruch auf Nonkonformität und Originalität, weicht er immer häufiger auf marginale Texte aus, wenn sie nur ein klein wenig kalauernden Unterhaltungswert zu bieten scheinen. So werden von Marie Luise Kaschnitz und Paul Celan fast nur zweitrangige Texte präsentiert, von Günter Grass die zwar kochrezeptgerechte, aber ansonsten wenig bewegende „Schweinekopfsülze“. Bei der Lyrik der 70er und 80er Jahre drängen sich immer mehr Haffmans- Autoren in den Vordergrund: Robert Gernhardt beispielsweise spekuliert auf unsere Kicherbereitschaft: „Sonette find ich sowas von beschissen,/ so eng, rigide, irgendwie nicht gut;/ es macht mich richtig krank zu wissen,/ daß wer Sonette schreibt. Daß wer den Mut// hat, heute noch so'n dumpfen Scheiß zu bauen; allein der Fakt, daß so ein Typ das tut,/ kann mir in echt den ganzen Tag versauen...“ Auch solche pennälerhaften Satiren gehören zu der Leichtigkeits-Therapie, die Marquardt der modernen Lyrik verordnet. Dagegen wäre wenig einzuwenden, würde sich nicht durch die humoristisch-satirische Daueranstrengung der Blick auf das lyrische Treiben der Gegenwart zwangsläufig verengen. Soll man denn, wie Marquardt nahelegt, neben dem — zugegeben — großartigen Peter Rühmkorf, neben H.C. Artmann, Ror Wolf und der Titanic- Redaktion keine anderen lyrischen Götter mehr haben? Wer es genau wissen will, der muß sich auf einige Nebenkosten einstellen. Denn der Anthologist Marquardt erteilt triftig begründete Antworten nur gegen Entrichtung „einer noch festzusetzenden Schutzgebühr“. Michael Braun
Christoph Buchwald/Thomas Rosenlöcher (Hrsg.): „Jahrbuch der Lyrik 8“. Luchterhand 1992, 138 Seiten, 16,80 DM.
Axel Marquardt (Hrsg.): „100 Jahre Lyrik! Deutsche Gedichte aus zehn Jahrzehnten“. Haffmans Verlag 1992, 682Seiten, 33DM.
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