DOKUMENTATION
: Den Bezug zum Islam relativieren

■ Der Libanese Georges Corm zur Vielfalt der arabischen Gesellschaft

Während des Golfkrieges waren Sie äußerst kritisch. Wie beurteilen Sie jetzt seine Ergebnisse?

Georges Corm: Ich sehe nur ein positives Ergebnis — ein kurzfristiges für die westliche Wirtschaft: Die Ölpreise sind niedrig geblieben. Das kann jedoch die ganzen anderen katastrophalen Konsequenzen auf regionaler Ebene nicht rechtfertigen. Zum einen: Die noch immer dramatische Situation der 17 Millionen Irakis und das kurdische Problem im Norden, das auf die Türkei übergreift, sowie im Süden eine mögliche Interventionszone für den Iran. Auf der Seite der Länder, die vom Westen verteidigt wurden, ist Saudi-Arabien zerbrechlicher geworden. Religiöse Bewegungen, die die offizielle Politik kritisieren, haben Auftrieb erhalten; weiter hat das Königreich den Großteil seiner finanziellen Überschüsse verloren, die seine politische Hauptwaffe für das Überleben in der Region waren; schließlich erleben wir ein Wiederaufleben der vielen historischen Konflikte, die bei der Schaffung des saudischen Königreiches im Jahre 1925 mit Jemen entstanden — als Folge der Ausweisung von über einer Million jemenitischer Gastarbeiter durch die saudische Regierung während des Konfliktes mit dem Irak.

Was Kuwait betrifft: Es wird niemals wieder sein, was es einmal war — das heißt ein großes Finanzzentrum und sogar ein intellektuelles Zentrum dank der Anwesenheit vieler Palästinenser, die jetzt vertrieben worden sind. Es ist dazu verdammt, in einem sehr unstabilen, gefährlichen Gleichgewicht zu leben, mit einer stark diskreditierten Monarchie. Daher sind die Ergebnisse des Golfkrieges langfristig negativ. Man sieht auch, daß die in Madrid begonnenen Nahost-Gespräche bis jetzt nicht viel gebracht haben.

Zumindest haben sie begonnen...

Das interessanteste Element des Madrider Prozesses ist, daß die Vertreter der palästinensischen Zivilgesellschaft sich als Gesprächspartner haben durchsetzen können, dank der Intifada und der israelischen Weigerung, einen Dialog mit der PLO zu führen. Das darf uns indessen nicht davon abhalten, zu sehen, daß die vom Westen bestimmten Prozeduren und Sichtweisen wenig Chancen haben, bald zu einem Ergebnis zu gelangen. Das Problem ist komplizierter als das eines unglücklichen Konfliktes zwischen zwei nichteuropäischen, gleichrangigen Nationalismen, zwischen denen der Westen zu vermitteln hätte. Man kann die geschichtliche Verantwortung Europas nicht außer Betracht lassen. Es fand eine Verlagerung der Probleme in den Nahen Osten statt, welche die Virulenz des säkulären Antisemitismus in Europa hervorrief. Der Staat Israel ist in vielerlei Hinsicht eine Ausweitung des historischen, kulturellen und psychologischen „Raumes“ Zentraleuropas und Rußlands; er ist ein Heiligtum der europäischen Geschichte, ein wesentliches Symbol für das Funktionieren des okzidentalen Bewußtseins.

Gibt es nicht auch in arabischen Kreisen Antisemitismus?

Die Araber entwickelten Antisemitismus durch Importe aus Europa. Das „Protokoll der Weisen von Zion“ oder „Mein Kampf“ stammen aus Europa, nicht aus der arabischen Welt. Es gibt in der arabischen Kultur keinen Antisemitismus im europäischen Sinne. Vielleicht gibt es einen theologischen Antisemitismus im Islam; aber die Praxis der islamischen Gesellschaft gegenüber Nicht- Muslims, Juden oder Christen hat diesen Streit nicht widergespiegelt.

Wurden Juden und Christen in der arabischen Geschichte unterschiedlich behandelt?

Das osmanische „Millet“-System gab den christlichen und jüdischen Gemeinschaften in der islamischen Gesellschaft Rechtsschutz. Es garantierte keine Gleichheit im modernen Sinne, aber es garantierte den Nichtmuslimen das Recht auf Eigentum, das Recht zu freier Religionsausübung, das Recht zu eigenen Justiz- und Bildungssystemen.

Das osmanische und arabische System hat sich bis heute gehalten; während das westliche sich enorm weiterentwickelte.

Ja, aber vergessen wir nicht, daß die Osmanen versuchten, das „Millet“-System zu reformieren. Im Sultanshof von Istanbul gab es reformistische Kreise, die stark von den Ideen der Französischen Revolution durchdrungen waren. Diese Reformen schlugen aufgrund eines zweifachen Drucks fehl: seitens der konservativen islamischen Kreise, aber auch der europäischen Mächte. Diese übten Druck auf das Osmanischen Reich aus, damit dieses die moderne Gleichheit zwischen Subjekten aller Glaubensrichtungen realisiert; aber gleichzeitig erreichten sie die Beibehaltung der Privilegien im Justiz- und Bildungswesen, welche den Juden und Christen zustanden. Die Mächte wollten ihren Einfluß auf die christlichen Gemeinschaften nicht verlieren. Dies hat sich bis heute perpetuiert — im politischen System Libanons, das noch immer auf dieser unmöglichen Gleichung beruht, welche durch das Abkommen von Taif im Jahre 1989 mit dem Vorwand, Libanon wieder Frieden zu bringen, bekräftigt wurde.

Wie steht es um den Libanon?

Libanon ist in einem verzweifelten Zustand. Die Weltgemeinschaft hat sich ein gutes Gewissen gegeben, indem es die Abkommen von Taif begrüßte und sie durch den Weltsicherheitsrat absegnen ließ. Dieses Abkommen verfestigt einen Kommunitarismus, der roher ist als je zuvor. Das Abkommen hat außerdem den USA erlaubt, ihren Vorzugsverbündeten Saudi-Arabien massiv in Libanon einzuschalten, als Gegengewicht oder vielleicht als Nachfolger der syrischen Präsenz. So wächst der saudische Einfluß seit 1989 alarmierend an. Das libanesische Parlament hat ein Gesetz verabschiedet, das einer einzigen Grundeigentümergesellschaft erlaubt, ohne jegliche Kontrolle ein megalomanes Wiederaufbauprojekt des historischen Beiruter Zentrums in die Wege zu leiten. Wenn dieses Projekt realisiert werden sollte, hätten wir ein saudisches Manhattan anstelle der alten arabisch-osmanischen Stadt mit seinen Florentiner und französischen Aspekten. Die Erinnerung des Ortes wird unwiederbringlich zerstört sein, das kleine Privateigentum vertrieben und die Umwandlung des Landes komplett.

Schließlich festigt das neue Taifer System im Namen der nationalen Versöhnung die Stellung der Politiker und Milizchefs, die von der Bevölkerung für das Unglück des Landes verantwortlich gemacht werden. Die internationale Gemeinschaft schätzt sie nicht, aber sie hat sie immer als mehr oder weniger respektable Staatsmänner behandelt. Meistens handelt es sich aber nur um Personen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben.

Was ist die Lösung?

Die einzige Lösung des israelisch- palästinensischen und des libanesischen Problems ist die Verallgemeinerung der Demokratie im Nahen Osten. Es gibt keine andere.

Was heißt das konkret? Ein palästinensischer Staat?

Ja, aber auch eine große Prinzipienfestigkeit. Die Individuen haben ein Recht auf Freiheit und Sicherheit ihres Lebens und ihres Eigentums. Die Entstehung insbesondere des Nationalstaates garantiert allein nicht Leben und Sicherheit.

Ist die arabische Welt wirklich eine Nation?

Jeder Europäer läßt sich gerne beruhigen, daß die arabische Nation nur ein schädlicher Mythos ist, eine Hauptquelle der Destabilisierung der Region. Eines der schwierigen Probleme in dieser Frage der arabischen Einheit ist, daß man sie seit zwanzig Jahren sehr eng mit dem Islam vermischen möchte, obwohl die wichtigsten Theoretiker des arabischen Nationalismus unzweideutig gezeigt haben, daß die arabische Einheit sich nur auf einer laizistischen Basis verwirklichen läßt. Das Bewußtsein der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der arabischen Völker ist älter als der Islam, es schließt viele Nichtmuslime ein und die große nichtarabische Mehrheit der Muslime aus.

Wenn man das durcheinanderbringt, verhindert man die Anerkennung der ethnischen Vielfalt der arabischen Gesellschaft: die arabisch- berberische im Maghreb, die arabisch-aramäische im Nahen Osten, die arabisch-beduinische. Um diese Realitäten zu erkennen, die viel stärker sind als die islamische Solidarität, muß man den Bezug zum Islam relativieren. Damit verlieren auch die Regierungssysteme, die sich auf Religion stützen, um ihren Bürgern die Freiheit zu verwehren, ihre Legitimität. Interview: „Le Monde“

Georges Corm, in Ägypten geborener Libanese, hat in Algerien und Libanon im Staatsdienst und als Universitätsprofessor gearbeitet. Seit 1986 lebt er als unabhängiger Wirtschaftsberater in Paris. Das vollständige Interview erschien am 14. Juli in „Le Monde“.