piwik no script img

Gezähmte Jugend

■ Hamburg im 19. Jahrhundert: Strafklasse für unangepaßte Kinder

für unangepaßte Kinder

Die aufgeregte aktuelle Diskussion um die Hamburger Autoknacker-Kids, der wütende Schrei nach geschlossenen Heimen legt das allgemeine Sicherheits- und Strafinteresse bloß. Wer sich den herrschenden Regeln nicht anpassen will, der muß eben weggeschlossen werden und für seine Abweichung büßen. Ein Standpunkt, der ebenso antiquiert wie unsinnig ist. Das Prinzip der Zwangserziehung war noch nie erfolgreich. Bestes Beispiel ist die 1828 eingerichtete Strafklasse. Ein bisher unerforschtes Kapitel hanseatischer Historie, das der Forscher Joachim Döbler aufgeblättert und das an seiner Brisanz nichts eingebüßt hat.

Damals wie heute war Kriminalität reine Definitionssache. Kinder, die sich nicht so benahmen, wie es die bürgerliche Erziehungskultur verlangte, wurden ausgesondert. Völlig unberücksichtigt blieb die Tatsache, daß Jungen und Mädchen aus dem Armenmilieu oder problematischen Familienverhältnissen andere Verhaltensweisen entwickeln müssen, um über die Runden zu kommen. Andersartigkeit wurde als Erziehungsdefizit gewertet. Unsauberkeit und häufige Unpünktlichkeit reichten schon aus, um die Kinder in die Strafklasse einzuliefern. Aber auch Diebe und miß-

1brauchte Mädchen fanden sich dort. Denn nicht immer waren es Polizei oder Fürsorger, die den Kindern Zwangserziehung aufbrummten. Ebenso häufig waren es die Eltern, die sich ihres Nachwuchses auf diese Art entledigten.

Durchschnittlich anderthalb Jahre blieben die acht bis 20jährigen Zöglinge in der Strafklasse, die im Zuchthaus zwischen Jungfernstieg und Alstertor untergebracht war. Ziel war es, die Unbändigen durch Disziplin und Strafe zu zähmen. Zum ausgeklügelten Zuchtinstrumentarium gehörten die allge-

1genwärtige Beobachtung, ein streng geregelter Tagesablauf, Prügel und die Numerierung von Dingen. Durch letzteres war es möglich zu verfolgen, welches Kind welchen Gegenstand beschädigt hatte.

Am Ende der pädagogischen Zwangsbehandlung stand selten die durchgreifende Besserung. Viele fielen in ihr altes Milieu zurück, andere wurden zur See geschickt — eine subtilere Form der Aussonderung als das Gefängnis. Sigrun Nickel

Joachim Döbler: Gezähmte Jugend, LIT-Verlag, 48,80 Mark

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen