: Kriegsflüchtlinge - Zeugen des Grauens
■ Die Nachrichten von den Greueln kommen mit ihren ÜberbringerInnen. Je mehr Flüchtlinge dem Kriegsgebiet auf dem Balkan entkommen, desto mehr Hinweise gibt es auf die schrecklichen Verbrechen...
Kriegsflüchtlinge — Zeugen des Grauens Die Nachrichten von den Greueln kommen mit ihren ÜberbringerInnen. Je mehr Flüchtlinge dem Kriegsgebiet auf dem Balkan entkommen, desto mehr Hinweise gibt es auf die schrecklichen Verbrechen, die die kriegführenden Parteien an wehrlosen Zivilisten begehen: Tausende werden in Lagern festgehalten, gefoltert und umgebracht. Die Barbarei ist überdies längst zu einem Krieg gegen Frauen geworden. Wo die Soldateska wütet, werden Frauen vergewaltigt, zur Prostitution gezwungen, auf bestialische Weise ermordet.
In seinem neuen Werk über den Holocaust, das drei große Gruppen: Täter, Opfer und Zuschauer untersucht, widmet der amerikanische Historiker Hilberg den „Boten“ ein eigenes Kapitel. Die Zeugen des Völkermords an den Juden versuchten ihre alliierten Gesprächspartner verzweifelt davon zu überzeugen, daß ein Verbrechen ohnegleichen im Gange war. Oft genug begegneten sie Unglauben. Kurt Gerstein, dem Widerstandskämpfer in SS-Uniform, wurde 1944 von einem holländischen Diplomaten bedeutet, daß Greuelpropaganda im Kampf gegen die Deutschen nutzlos sei.
Eine deprimierende Analogie zu den Berichten über Internierungslager in Bosnien-Herzegowina drängt sich auf. Aber muß eine Öffentlichkeit, die weiß, daß Desinformation zum Geschäft jeder kriegführenden Partei gehört, nicht Distanz wahren gegenüber Aussagen, die nicht nachprüfbar sind? Auf der KSZE-Konferenz in Helsinki gab Bosniens Präsident Izetbegovic die Existenz von 23 „Konzentrationslagern“ der Serben in den von ihnen kontrollierten Gebieten Bosnien-Herzegowinas bekannt. Auf die prompte Frage der Journalisten, woher er das wisse, konnte Izetbegovic nur antworten: „Von meinen gequälten Landsleuten — und ich glaube ihnen.“ Mittlerweile gibt die Regierung Bosniens die Zahl der Lager mit 120 und die Zahl der internierten Zivilisten mit rund 120.000 an. Einzige Quelle: Berichte ehemaliger Internierter.
Am vergangenen Wochenende veröffentlichte der US-Journalist Roy Gutman Berichte von Überlebenden schrecklicher Verbrechen, die serbische Wachmannschaften in zwei Lagern im nordöstlichen Bosnien, in Omarska und Brcko begangen haben sollen. Befragt, wie er die Glaubwürdigkeit dieser Aussagen beurteile, sagte Gutman gegenüber dem englischen Rundfunksender BBC sinngemäß, es gebe kein eindeutiges Kriterium, wohl aber die Möglichkeit, sich im Gespräch ein Bild von der Authentizität der Augenzeugen in emotionaler wie intellektueller Hinsicht zu machen. Und es gebe die Möglichkeit nachzufragen. Christine von Kohl, die für die Internationale Helsinki-Föderation für Menschenrechte in Wien arbeitet, veröffentlichte Anfang der Woche ebenfalls Berichte über zwei weitere Lager, in Karakej bei Zvornik und in Bjeljina. Sie stimmen im Kern mit Aussagen überein, die weiter unten auf dieser Seite nachzulesen sind. Am Wochenende bestätigten auch Sprecher des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in Genf, daß im ehemaligen Jugoslawien Internierungslager existierten, in denen die Menschenrechte ständig und massiv verletzt würden. Das IKRK gab bekannt, es habe bislang acht Lager mit 4.000 Insassen besucht, machte allerdings keine näheren Angaben. Dies müsse unterbleiben mit Rücksicht auf die Gefangenen, denen man in Zukunft noch zu helfen hoffe. Im übrigen hätten sich alle Kriegsparteien an unschuldigen Zivilisten vergangen.
Der Sprecher der serbischen Volksgruppe in Bosnien hat am Dienstag alle Anschuldigungen zurückgewiesen und kategorisch erklärt, die Serben hielten nur Kriegsgefangene, die gemäß den Bestimmungen der Genfer Konvention behandelt würden. Er beschuldigte seinerseits die Kroaten und Moslems, insgesamt 42.000 serbische Zivilisten in Lagern gefangenzuhalten, von denen es 44 gäbe, davon allein 22 in Sarajevo. 6.000 Serben, vor allem Frauen und Kinder, seien bisher in diesen Lagern ermordet worden.
Gegen die Darstellung der serbischen Seite spricht vor allem, daß die Serben Bosniens bis heute sowohl der Presse als auch den Untersuchungskommissionen den freien Zugang zu Internierungslagern verweigern. Gespräche mit Gefangenen fanden nur außerhalb der Lager und unter Aufsicht statt. Allerdings hat die serbische Führung in Bosnien- Herzegowina gestern der UNO angeboten, jederzeit alle Lager und Gefängnisse auf serbischen Gebiet inspizieren zu können. Gleichzeitig wurde der Sicherheitsrat aufgefordert, auch moslemische und kroatische Lager aufsuchen zu lassen.
Die serbischen Gegenanschuldigungen sind nicht spezifiziert. Auf den ersten Blick erscheint es unglaubwürdig, daß die moslemisch- kroatischen Verteidiger im eingekesselten Sarajevo und unter den Augen der UNO in über 20 Lagern Tausende Zivilisten gefangenhalten. Es gibt Beweise dafür, daß auch die Moslems und Kroaten Internierungslager unterhalten und Geiseln aus der Zivilbevölkerung nehmen. Aber diese Lager sind wenigstens teilweise der Öffentlichkeit zugänglich. Die Reportage des taz-Korrespondenten Thomas Schmid aus Bosanski Brod ist ein Beleg dafür.
Wie man die verschiedenen Behauptungen auch wertet, richtig ist auf alle Fälle die Forderung des IKRK, alle Lager für Inspektionen zu öffnen. Unverständlich hingegen die Weigerung der Rot-Kreuz-Vertreter in Genf, über die inspizierten Lager genaue Angaben zu machen. Wenn überhaupt den gequälten Menschen geholfen werden kann, dann nur durch die Herstellung von Öffentlichkeit. Offensichtlich hat die Rote- Kreuz-Diplomatie aus den Fehlern, die zur Zeit des Nazismus begangen wurden, nichts gelernt.
Gerade weil ein immer dichteres Netz von Berichten und Aussagen die serbischen Streitkräfte und Freischärler in Bosnien-Herzegowina belastet, ist es notwendig, bei der Charakterisierung der ihnen zur Last gelegten Verbrechen auf Begriffe zu verzichten, die nur die Emotionen hochpeitschen und falsche historische Analogien suggerieren. Dazu gehört die Übung der kroatischen und serbischen Seite, die Internierungslager als KZs zu bezeichnen. Systematisch verweist die Verwendung dieses Terminus auf den SS- Staat, auf den bürokratisch betriebenen Massenmord. Der Unterschied zu den Verbrechen einer marodierenden, der Kontrolle durch die eigenen Befehlsinstanzen oft nicht mehr zugänglichen Soldateska ist offensichtlich. Für diejenigen, die in Internierungslagern Menschen quälen und abschlachten, ebenso wie für die Schreibtischtäter, die die „ethnische Säuberung“ durchsetzen, bedeutet diese Differenzierung keine Minderung ihrer Verbrechen. Sie müssen abgeurteilt werden — wenn nötig durch ein internationales Gericht. Christian Semler
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen