: Das Handwerk der Sprachverdichtung
■ Die Septemberakademie der „Schule für Dichtung in Wien“
Berufsziel: Dichter(in)? Warum nicht. Im September wird die „Schule für Dichtung in Wien“ zum zweitenmal versuchen, angehenden Literaten Hilfestellungen in der Technik der Sprachverdichtung zu geben. Ich kann daran nichts verwunderlich finden. Anders offenbar einige Feuilletonredaktionen überregionaler deutschsprachiger Zeitungen, die Berichterstatter zum ersten viertägigen Lehrgang im April schickten, um den Initiatoren und Lehrern der autonom verwalteten Schule auf den poetischen Zahn zu fühlen. Aus der „Wiener Gruppe“ um H.C. Artmann ist dieses Institut auf der Basis eines gemeinnützigen Vereins hervorgegangen, auch Wolfgang Bauer, der Leipziger Peter Gosse und die Dänin Inger Christensen gehören zum festen Dozentenstamm.
„Bisher war das Dichterwerden Glückssache“, schrieb Iris Radisch ironisch in der Zeit. Genau gegen dieses „seit der Geniezeit verbreitete Mißverständnis, daß Literatur weder lehr- noch lernbar ist“, ist die Schule jedoch angetreten. Niemand käme auf die Idee, aus journalistischen Gründen an einer Hochschulklasse für Bildende Kunst zu partizipieren. Nur weil die deutschsprachigen Durchschnittsbürger gemeinhin in der Lage sind, mehr oder minder sicher mit Sprachkonventionen umzugehen, erachtet man die Beschäftigung mit dem erlernbaren Aspekt der Sprachverdichtung für obsolet.
Der Grundirrtum hierbei ist, daß „Dichtung“ gleichgesetzt wird mit Kunst. Künstler(in) ist kein Lernberuf, das gilt aber auch für angehende Maler und Bildhauer, die jedoch kommentarlos in die entsprechenden Schulen strömen dürfen. Nicht alle Absolventen dieser Einrichtungen werden künstlerisch, also innovativ tätig. Das darf auch von jenen nicht erwartet werden, die ihre Realitätserfahrung mittels verdichteter Sprache zu Lyrik, Prosa oder Dramen verarbeiten wollen.
Der unterschiedliche Wert, den man bildnerischer und sprachlicher Arbeit gesellschaftlich beimißt, ist wohl vor allem durch den Markt bestimmt. Ein Gedicht nimmt sich kümmerlich aus als Wandschmuck in Eingangshallen großindustrieller Bürohäuser, steigert seinen Geldwert nicht meßbar, kann nicht so schnell und leicht konsumiert werden, ist kurzum geistiger Luxus, aber auch wieder nicht luxuriös genug, weil beliebig reproduzierbar. John Kean wurde als Kriegsmaler von Großbritannien an den Golf geschickt. Nicht im Traum hatte man sicher daran gedacht, eine(n) Dichter(in) das Kriegsgeschehen in Sprachbilder fassen zu lassen. Kunst kann man nicht in Auftrag geben, aber Dichtung ist nicht notwendig Kunst, und ebenso wie man lernen kann, mit Pinsel und Farbe Eindrücke festzuhalten, muß gelernt werden, dies in Worten zu tun.
„Jeder, der einigermaßen die Verkehrsregeln der Sprache kennt, glaubt, mit ihr auch gleich poetisch umgehen zu können, und sei es nur, wenn er tagebuchartig Seelenschwitze in gebrochene Zeilenform bringt“, schreibt Gerhard Rühm in einem für die „Schule für Dichtung“ verfaßten Text. In zwölf Schreibklassen wurden 140 Teilnehmer im April unterrichtet. 300 Interessenten mußten abgewiesen werden. Karlo Naß aus Bielefeld nahm an der Rühm-Klasse teil. In einer Übung, so sagte er, sollten alle zwölf Schüler je ein Substantiv, Verb und Adjektiv nennen. Aus dem so entstandenen Fundus von 36 Wörtern wurde dann ein Text geschrieben. „Man hat gelernt, die eigenen Fähigkeiten ein bißchen besser einzuschätzen“, beurteilt er den Lerneffekt. In Lehrgesprächen mit den Dozenten konnte die eigene Arbeit reflektiert werden. Seine Lyrik sei gut, habe Rühm zu ihm gesagt, sehr modern und würde sich kaum veröffentlichen lassen. Ein Paradox des Literaturmarktes. Ob er bei jener Übung ein Gedicht geschrieben habe, fragte ich Naß. Er hat.
donau schlürfen
donau/ donau und/ donau na und/ donau schlürfen und/ hüpfen na/ und donau schlürfen na und auch bei sturm/ donau schlürfen hüpfen schreiben/ donau/ donau schlürfen bei sturm wie rutsche ins maul/ ist wie tonne bleiern ins maul/ hinterlistig aber gut und weich/ wie hose im sturm ohne knopf und alles voller besorgungen.
Alles in allem sei zum kreativen Arbeiten die Zeit zu kurz gewesen, resümierte Naß. Die Septemberakademie hat ihre Lehrzeit ausgeweitet: Insgesamt 120 Stunden Unterricht sind vorgesehen, die Klassen dauern drei oder sechs Tage. „Akustisches, Grafisches, Szenisches“ wird die Grenzen der reinen Spracharbeit ausweiten, gerade das Experiment bedarf der Lehre, glaubt man offenbar.
Ein sechstägiger Kurs bei Artmann oder Bauer kostet 1000ÖS, cirka 140Mark. Im Gegensatz zur Aprilakademie werden die Teilnehmer aufgrund eingeschickter Texte ausgewählt, eine Selektion, die zwar nicht wünschenswert, aber an den meisten Akademien anderer Bereiche üblich ist. Unterstützt wird die Schule von verschiedenen staatlichen und privaten Bildungs- und Literatureinrichtungen Österreichs.
Zu den Vorbildern gehört neben der Sappho-Schule auf Lesbos (um 600 v.Chr.) vor allem die von Allen Ginsberg und Anne Waldman 1974 gegründete „Jack Kerouac School of Disembodied Poetics“ in Boulder, Colorado, wobei laut Programm besonderer Wert auf Wiener Traditionen wie das Stegreifspiel oder Konkrete Poesie gelegt werden soll. Nach einigen Übergangsjahren periodischer Lehrveranstaltungen soll ein ganzjähriger Betrieb aufgenommen werden.
Ob sich in Wien ein kleiner Kreis von Dichtern selbst ein Forum und Denkmal schafft, oder ob tatsächlich das Handwerk der Sprachverdichtung vermittelt werden kann, wird sich zeigen. Die alleinige Existenz einer „Schule für Dichtung“ im deutschsprachigen Raum ist jedoch erfreulich, zumal es Vergleichbares nur in Leipzig ab nächstem Frühjahr wieder geben wird. Denn die dortige Johannes-R.-Becher-Schule, in der zu SED-Zeiten nach einem Stalinwort „Ingenieure der menschlichen Seelen“ ausgebildet wurden, ist derzeit gleichzeitig mit ihrer Abwicklung als eigenständiges Institut und ihrer Neukonstituierung als Teil der Leipziger Universität befaßt. Selbst abseits der ideologischen Funktionalisierung von Literatur mißt man hier einer handwerklichen Grundausbildung der zukünftigen Literaten selbstverständlich Bedeutung bei. Nur wer immer noch glaubt, deutsch sprechende Menschen seien per se Dichter und Denker, kann sich leisten, auf eine Schule für Dichtung zu verzichten. Petra Kohse
Schule für Dichtung in Wien. Septemberakademie, 8.-19.9., Anmeldeschluß 16.8., Esterhazygasse 21/21, A-1060 Wien, Tel.: 0043-222-5877377.
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