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Keine Spiele mehr

Prosa aus dem Nachlaß des Dramatikers Georg Seidel  ■ Von Hubert Spiegel

Ein Intellektueller, unterwegs in einer politischen Mission für sein Vaterland, fragt vor der Ausreise einen Zöllner, ob er denn überhaupt wisse, was auf der anderen Seite des Schlagbaums los sei. Dann klärt er den vermeintlich Ahnungslosen auf: „Die Uhren, die Wolken und Pulsschlagmaschinen werden mit Panzeraltöl geschmiert. Darum geht alles so schwer — es klebt und zieht Fäden ein, selbst Steine, wenn man sie in die Luft wirft, brauchen oft Tage, um wieder auf der Erde zu landen. Die Zeit ist in solchen Rückstand geraten, daß wir dort noch fünfzig Jahre brauchten, um geboren zu werden.“ Für die ineinander verliebten Köngiskinder der beiden benachbarten Königreiche erwartet der Wissenschaftler schreckliche Konsequenzen aus der fatalen Ungleichzeitigkeit: „Die armen Kinder, bei jeder Umarmung fallen sie in ein anderes Nichts.“

Das Theaterstück „Königskinder“, uraufgeführt 1988 im Theater der Stadt Schwedt an der Oder, ist Georg Seidels Version von Büchners „Leonce und Lena“. Die mißglückten Umarmungsversuche, die der Dramatiker den Gelehrten im Stück vorhersagen läßt, sind in Deutschland Wirklichkeit geworden. Auf dem Theater allerdings finden sie nur selten statt, denn Seidels „Königskinder“ stehen nicht oft auf den Spielplänen der Bühnen. Die Frage, ob der Dramatiker die Wiedervereinigung hat kommen sehen, ist müßig. Denn Seidel war als genauer Beobachter viel zu sehr der Gegenwart verpflichtet, um Prophet sein zu können. In seinen Theaterstücken, vor allem in „Carmen Kittel“, der Geschichte einer kleinen Fabrikarbeiterin, die schwanger wird, abtreibt und schließlich ein entführtes Kind erstickt, ließ Seidel Menschen zu Wort kommen, die nicht viel zu sagen hatten. Er legte ihnen keine großen Worte in den Mund. Er zeigte die Umstände, unter denen sie leben mußten. So wurde ihre Sprachlosigkeit verständlich.

Die Prosaskizzen, die Elisabeth Seidel und Irina Liebmann aus dem Nachlaß des Dichters herausgegeben haben, lassen ahnen, wie dicht Seidel oft selbst vor der Sprachlosigkeit gestanden haben muß. Viele der kurzen Texte — die meisten umfassen kaum mehr als eine Seite — brechen merkwürdig abrupt ab. Es gibt kaum Pointen, keine Schlußsätze im üblichen Sinne. Seidel beginnt seine Texte mit der Wiedergabe einer Begebenheit, er teilt eine Beobachtung mit, führt sie aber nicht zu einem sinnvollen Ende. Statt dessen zerfasert die Beschreibung. Der Versuch, Sinnzusammenhänge zu konstruieren, wäre abwegig, eine unzulässige Manipulation einer sinnentleerten Wirklichkeit. Die Situationen, die Seidel schildert, führen in die Absurdität. Oder sie entstammen ihr bereits.

Ein Dichter kündigt im Theater von der Bühne herab die Massenerschießung des Publikums an. Eine andere Tragödie, die das Publikum noch etwas angehen könne, sei ihm und dem Ensemble nicht eingefallen. „Hier wird kein Thema behandelt, hier werden Sie heute erledigt“, erklärt der Dichter und verspricht: „Keine Spiele mehr, die Täuschung hört auf.“ Der Satz klingt wie ein Motto. Die Geschichten, die diesem Motto folgen könnten, müßten denen Georg Seidels ähneln. Sie dürften also gar keine Geschichten mehr sein, sondern müßten zu jener sperrigen Prosa gehören, die sich der eindeutigen Zuordnung und Entschlüsselung entzieht, auf plane Abbildung der Realität verzichtet, aber viel über die Wirklichkeit als Bedingung ihres Entstehens zu berichten weiß.

In einem anderen Text erklärt ein Sporttrainer einem Philosophen die Bedeutung des Sports für die Gesellschaft. „Die Maschine bringt uns vorwärts“, befindet der Trainer, „aber der Sport hilft uns die Zerstörung ... zu ertragen und trotzdem, wo alles sich erniedrigen muß, der Sport richtet ihn wieder auf. Und der Mensch, so oft gedemütigt, bleibt, wenn seine Nationalmannschaft siegt, trotzdem stolz.“ Der Trainer ist das Gegenteil des Dichters, sein Motto müßte lauten: „Immer mehr Spiele, die Täuschung hört nie auf.“ Seidels Texte sind traurige Prosastücke, die sich der Täuschung verweigern, auf das Spiel, das Spielerische in der Literatur und im Leben aber nicht verzichten wollen.

Seidels Werdegang ist ungewöhnlich für einen, der schon in der Schule den Spitznamen „Dichter“ trug. Seidel, Jahrgang 1945, lernte zunächst Werkzeugmacher, besuchte anschließend ein einjähriges Katechetenseminar und wurde 1967 Bühnenarbeiter in seiner Geburtsstadt Dessau. Später arbeitete er bei der DEFA und danach am Deutschen Theater in Berlin als Beleuchter. 1982 wurde er dramaturgischer Mitarbeiter. Erst 1987 wendete er sich ganz der Schriftstellerei zu. Als der Dramatiker im Juni 1990 starb, hatte er fünf Theaterstücke veröffentlicht. Ein Jahr nach seinem Tod nahm seine Witwe den Mülheimer Dramatikerpreis für ihn entgegen.

Die Anerkennung kam spät. Das Literaturinstitut Leipzig zog die bereits erteilte Studienerlaubnis wieder zurück, weil Seidel unter dem Eindruck der Niederschlagung des Prager Frühlings den Wehrdienst verweigert hatte. Bevor Seidel den Ersatzdienst als Bausoldat antrat, wurde er von der Ingenieurhochschule Karl-Marx-Stadt geworfen, wo er seit einem halben Jahr eingeschrieben war. In einer schikanösen Aktion wurde er vor den Augen seiner Kommilitonen während einer öffentlichen Versammlung als Pazifist beschimpft, lächerlich gemacht und exmatrikuliert. Aber noch im Briefwechsel mit dem Literaturinstitut Leipzig, den Irina Liebmann in ihrem Nachwort zitiert, suchte Seidel den Dialog mit den Verantwortlichen. Er flüchtete nicht in Häme, Arroganz oder verletzte Eitelkeit. Seidel argumentierte sachlich und verblüffend offen. Auf den Vorwurf, seine Gedichte verrieten einen „fast manischen Haß auf die Frau“, erwiderte Seidel: „Ich frage: Wer entstellt Frauen mehr, ich oder eine düstere Werkhalle, in der Frauen Tag für Tag (ihren Mann) stehen, um Bleche, nichts als Bleche zu stanzen...?“ Das war 1972. Fünfzehn Jahre später wurde in Schwerin „Carmen Kittel“ uraufgeführt. Ein Stück, in dem Frauen Tag für Tag in einem „Kartoffelschälbunker“ stehen, um Kartoffeln, nichts als Kartoffeln zu schälen.

Was war nun Georg Seidels Thema? Das äußerst einfühlsame und dennoch unpathetische Nachwort der Mitherausgeberin Irina Liebmann beginnt mit den Sätzen: „Lieber Leser. Was Sie hier in der Hand halten, ist eine Rarität. Es ist Literatur aus der DDR. Keine DDR- Literatur.“ Die DDR-Literatur habe nicht die Realität, sondern den Realitätsverlust diskutiert. Seidel, so heißt es einige Seiten weiter, „hat einen grundsätzlich anderen Blick ... aber verwunderlich, komisch und befreiend sogar taucht etwas von unserem Leben auf. Also konnte man das auch sehen.“ Natürlich konnte man. Man mußte nur sehen wollen und den Anblick ertragen. Und darüber schreiben, so lange die Sprache es erlaubte.

„Wir haben uns zwangsläufig immer mehr in die Metapher oder, ich würde sagen, in eine gehobene Sklavensprache hineingearbeitet, um überhaupt noch schreiben zu können“, sagte Seidel in einem Interview kurz vor seinem Tod. Die gehobene Sklavensprache, das ist eine Bezeichnung, der es an Deutlichkeit, aber auch an Sarkasmus nicht fehlt. Seidel war Realist und war es nicht. Sein Thema war die Unmöglichkeit des aufrechten Ganges. Seine Figuren kämpfen mit ihren untauglichen Mitteln einen fast beiläufigen, ganz unpathetischen Kampf um Stolz und Würde in einer Welt, in der diese Begriffe zu Anachronismen geworden sind. „Ich habe meine Personenkennzahl als Telefonnummer benutzt“, heißt es im letzten Text des Bandes, „ein Großhandel meldete sich, ein Großhandel für Plastwaren und Gummi.“

Georg Seidel: „In seiner Freizeit las der Angeklagte Märchen. Prosa“. Herausgegeben von Elisabeth Seidel und Irina Liebmann. Mit einem Nachwort von Irina Liebmann. Kiepenheuer und Witsch, 1992, 139Seiten, 28DM.

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