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SargArt aus Moskaus Kellern

■ Vadim Sidur, russischer Bildhauer und Nonkonformist, im Gerhard Marcks-Haus

Puppe im

Käfig

„Baby in der Mausefalle“, Metall, Plastik, Holz, 1974

Eine böse Kunst, voller Schmerz, Aggression, Gewalt; hermetisch, unerbittlich, kaum jemals ironisch gebrochen; potente Kunst mit dem Thema „Impotenz“ — nicht nur, aber auch und reichlich in sexueller Hinsicht. Als Martina Rudloff, Kustodin des Gerhard Marcks-Hauses, die Lieferungen aus Moskau und Bochum auspackte, erschrak sie. Nicht zuletzt, weil sie an das Stammpublikum des Hauses dachte. Ein Haufen Schrott — und ein Verschraubungsplan.

Vadim Sidur ist seit sechs Jahren tot. Er war einer der eigenwilligsten, konsequentesten „Nonkonformisten“ der Post-Stalinzeit, einer der wenigen „dissidenten“ Bildhauer Moskaus, die abseits des konventionellen (und verordneten) Realismus einen

Weg fanden. Einer, der zeitlebens in seiner Heimat kaltgestellt war. In Bremen ist - zum ersten Mal überhaupt — eine Werkgruppe zu sehen, die selbst abgebrühte West-Kunstinteressenten noch erschüttern kann: seine „Skulturen-Collagen“.

Besucher des Gerhard Marcks- Hauses werden begrüßt von einer Erinnerung an München '72: Eine Linolschnittserie von 1973 nimmt Stellung zu Olympia, aber wie! Zerrissene Körper, abgerissene Penisse, aufgerissene Münder: Drastischer sind die Spiele der Jugend der Welt kaum zu kennzeichnen — als phallischer Exzess deformierter Körper, als onanistisches Fest der Impotenz.

Mannshoch tritt dann „Der Sieger“ von 1983 auf, eine Gipskulptur, versehrt, auf Krücke, ein Mahnmal. Wer Sidur im Westen kennt, kennt wohl am ehesten seine monumentalen Skulpturen, die in Kassel in der Fußgängerzone, in Konstanz, in einem Walzwerk in Hagen oder in München und Berlin stehen. Sidur wurde in den 70ern im Westen populär, als er in Moskau nach 30 Jahren noch immer in einem nassen Kellerraum arbeitete. Erst 1992 wurde in Moskau das Vadim Sidur-Museum eröffnet, aus dem die meisten Leihgaben stammen (der Rest: Städtisches Museum Bochum).

Und dann sind es vor allem die Freaks, die die Bremer Schau ausmachen. Aus Eisenschrott und Gips brachial zusammengehauene Figuren, mit deformierten, silbern angemalten Händen und Köpfen aus Alteisen vom Autofriedhof: Zylinderköpfen, Motorblöcken wie beim „Neuen Philosophen“ von 1978, der uns als Zunge eine Pleuelstange herausstreckt. Die Körper: Abwasserrohre. Riesen-Phalli schmücken „Philosophen“ und „Propheten“.

Vadim Sidur, geboren 1924 in Dnepropetrowsk in der Ukraine, war gelernter Dreher, zog 1944 freiwillig in den Krieg und wurde schwer verletzt. Krankheit (er war herzkrank) und Versehrtheit waren bei Sidur nicht nur Metaphern für den Zustand der Welt. An der Stroganow-Schule studierte er an der Fakultät für Monumentalplastik Bildhauerei. Er war von geradezu unglaublicher Schaffenswut: Sein OEuvre besteht aus über 500 Skulpturen und 1000 Grafiken. (“Und das haben Sie alles selbst gemacht? Ganz allein?“ fragte der Klempner und zog vor dem Meister die Mütze, bevor er das Rohr, das den Keller unter Wasser setzte, schweißte.)

Und dabei arbeitete Sidur ohne jede offizielle Anerkennung, die meiste Zeit wahrgenommen nur von einem kleinen Freundeskreis, von westlichem Standart und West-Avantgarde völlig abgeschlossen. Aus einem Interview 1980: „Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich damals nicht einmal wußte, daß es solche Bildhauer wie Moore, Lipschiz, Giacometti, Zadkin gibt.“

Eine kleine, anrührende Arbeit: Ein Soldatenstiefel, schwarz, geschunden, geknickt, lehnt sich an einen schmuddelig- weißen Frauenschuh mit hohen Absätzen — „Nach dem Krieg“ (1983). Und ein gräßliches Sperrmüll-Objekt: Rostige Kanalrohre zu einer „Frau“ gefügt, die auf einem abgewetzten Stuhl (Zahnarztstuhl? Gynäkologischer Untersuchungsstuhl?) hängt. Verschlingende Vagina, Arme auffordernd hochgestreckt.

Edward Kienholz hat vergleichbare Schrott-Assemblagen geschaffen, die „Eva auf dem Wiener Caféhausstuhl“ gebärdet sich expressionistisch, und doch: Ein isoliertes Künstlerleben — eine exklusive Kunst. „Sarg- Art“, wie Sidur sagt. Kunst als Möglichkeit der Koexistenz mit dem Tod. Burkhard Straßmann

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