: Chemiewaffenverbot ausgehandelt
Wenn heute in Genf der Chemiewaffenausschuß der UNO-Abrüstungskonferenz den Vertragstext zum Chemiewaffenverbot präsentiert, gehen die längsten Verhandlungen der Rüstungskontrollgeschichte zu Ende ■ VON ANDREAS ZUMACH
Der längste Poker der Rüstungskontrollgeschichte ist wahrscheinlich beendet. Nach 24jährigen Beratungen und Verhandlungen hat der Chemiewaffenausschuß der UNO-Abrüstungskonferenz am Freitag abend einen Vertragstext zum Verbot chemischer Massenvernichtungsmittel fertiggestellt. Der Vorsitzende des Ausschusses, der deutsche Botschafter von Wagner, wird das Verhandlungsergebnis heute in Genf der Öffentlichkeit vorstellen. Die formale Absegnung des 190seitigen Dokumentes durch die UNO-Abrüstungskonferenz (39 Staaten) soll spätestens zum 3.September erfolgen. Dann wird das Abkommen der UNO-Vollversammlung in New York zur Verabschiedung vorgelegt.
Möglicherweise findet Anfang 1993 in Paris eine Sonderkonferenz zur Unterzeichnung des Vertrages statt. Nach einer Ratifikation durch die Parlamente von mindestens 65 Staaten könnte der erste multilaterale Rüstungskontrollvertrag seit dem Verbotsabkommen über biologische Waffen von 1972 in Kraft treten. Nicht ganz ausgeschlossen ist allerdings, daß in New York die Sachverhandlungen noch einmal eröffnet werden — mit dann ungewissem Ausgang. Denn in einem Begleitdokument zum Vertragstext, das bis zum 26.August fertiggestellt und der UNO-Vollversammlung ebenfalls vorgelegt werden soll, wollen einige Staaten Vorbehalte gegen verschiedene Bestimmungen des Vertrages anmelden.
Das Abkommen verbietet jegliche Entwicklung, Herstellung und Lagerung von Chemiewaffen sowie ihren Erwerb, Transport und Einsatz. Mit seinem Inkrafttreten wird das in den letzten 70 Jahren oftmals verletzte Genfer Giftgas-Protokoll von 1925 abgelöst, das lediglich die Anwendung chemischer Massenvernichtungsmittel bei der „Kriegsführung“ untersagt. Zur Überwachung („Verifikation“) der Vertragseinhaltung wurde ein umfangreiches Kontroll- und Inspektionsregime vereinbart. Die Durchführung dieser Verifikation ist die Hauptaufgabe einer neuen Chemiewaffenbehörde der UNO mit rund 1.000 Beschäftigen, die spätestens 1994 in Den Haag ihre Arbeit aufnehmen soll. Altbestände an C- Waffen müssen innerhalb von zehn Jahren nach Inkrafttreten des Abkommens vernichtet werden. Ist dies aus ökologischen oder finanziellen Gründen nicht möglich, kann die Haager Behörde die Frist im Einzelfall auf bis zu 15 Jahre verlängern. Diese Ausnahmeklausel wurde auf Wunsch Rußlands aufgenommen.
Zur Überwachung der Vertragseinhaltung führen international zusammengesetzte Teams der Haager Behörde Routine-Inspektionen durch, sowie — auf Antrag eines Unterzeichnerstaates — Verdachtskontrollen. Inspektionsobjekte können unter anderem militärische Anlagen, private Firmen oder auch als „geheim“ deklarierte Einrichtungen sein. Beantragt ein Staat eine Verdachtskontrolle in einem anderen Land, muß dieses dem internationalen Inspektorenteam innerhalb von fünf Tagen Zugang zu dem verdachterregenden Objekt gewähren.
Kompromiß bei den Überwachungsregeln
Die Verifikationsbestimmungen sind das Kernstück des Vertrages. Ihnen galten in den letzten Jahren die intensivsten Verhandlungen der Genfer Rüstungskontroll-Diplomaten. Was jetzt zu Papier gebracht wurde, ist jedoch — bei allem Fortschritt gegenüber dem gegenwärtigen Zustand — ein gutes Stück entfernt von der Forderung, mit der im April 1984 der damalige US-Vizepräsident George Bush vor der Genfer Abrüstungskonferenz auftrat: Kontrollen sollten „ohne jede Einschränkung, zu jeder Zeit und an jedem Ort“ stattfinden. Damals konnte sich Washington noch darauf verlassen, daß eine entsprechende Vertragsregelung scheitern würde an der grundsätzlichen Weigerung der anderen Großmacht Sowjetunion, sich auf dem eigenen Territorium in die Karten gucken zu lassen.
Doch nachdem Michail Gorbatschow im August 1987 die Bereitschaft erklärte, die UdSSR ausländischen Rüstungsinspektoren zu öffnen, rückten die USA immer mehr von ihrer ursprünglichen Haltung ab. Im Sommer91 legten sie in Genf schließlich sogar einen Vertragsentwurf vor, der den Interessen der „nationalen Sicherheit“ (wie etwa der Geheimhaltung der Technologie des „Stealth“-Tarnkappenflugzeuges) und der heimischen Chemieindustrie eindeutigen Vorrang vor Befugnissen internationaler C-Waffenkontrolleure einräumte. Der Vorgang führte zu erheblichen Auseinandersetzungen innerhalb der Gruppe der zehn westlichen Staaten in der Abrüstungskonferenz — vor allem mit Deutschland und Frankreich. Bonn und Paris drängten — gerade auch mit Verweis auf die Erfahrungen mit dem Irak — auf möglichst wasserdichte Verifikationsbestimmungen.
Mit dem jetzt vorliegenden Kompromiß — der auch einen detaillierten Maßnahmenkatalog zur Verhinderung von Spionage seitens der Inspektorenteams enthält — haben sich die aufweichenden US-Vorstellungen weitgehend durchgesetzt. Aus Sorge, Washington könne die Zustimmung zum Vertragstext verweigern und damit die für 1992 angestrebte Fertigstellung des Abkommens verhindern, gaben die Deutschen und andere Befürworter schärferer Verifikationsregeln nach. Vor allem hierauf spielte Bundesaußenminister Klaus Kinkel an, der in einer Reaktion auf die Fertigstellung des Vertragstextes erklärte, dieser entspreche „nicht voll allen Vorstellungen der Verhandlungspartner“.
Das Verhalten der Großmacht USA ermunterte auch einige Mitglieder der 21 „Drittwelt“-Staaten in der Abrüstungskonferenz — unter ihnen potentielle C-Waffenbesitzer und -aspiranten — in ihrer Ablehnung „zu intrusiver“ Inspektionsbestimmungen: Sie fordern, daß nach dem Antrag eines Staates auf Inspektion in einem anderen Land erst eine Anhörung vor der Haager C-Waffenbehörde stattfindet. Die große Mehrheit der 39 Konferenzstaaten sieht darin eine „unnötige Zeitverzögerung“, die dem Zweck des Verifikationsregimes zuwiderlaufe. Es wird in Genf damit gerechnet, daß Pakistan, Iran und möglicherweise auch Kuba gegen den jetzt gefundenen Kompromiß formale Vorbehalte in das Begleitdokument zum Vertragstext einbringen werden, die auf eine noch weitergehende Aufweichung der Überwachungsbestimmungen abzielen.
Vorbehalte gegen einzelne Vertragskapitel
Noch offen ist, ob andere Vertreter der „Gruppe der 21“ formale Einwände gegen die Vertragsbestimmungen zur Exportkontrolle waffenfähiger Substanzen und Produktionstechnologien erheben werden. In der US-Delegation wird nach dem Verlauf der Sitzung vom letzten Freitag damit gerechnet. Zehn Staaten — angeführt von Indien — hatten bis zuletzt immer wieder die Befürchtung geäußert, die Bestimmungen könnten zusätzlich zu den schon bestehenden Ausfuhrrestriktionen der „Australischen Gruppe“ von den Industriestaaten des Nordens dazu mißbraucht werden, die Entwicklung ziviler Chemieindustrien im Süden zu behindern. In der nach ihrem Gründungsort benannten „Australischen Gruppe“ koordinieren 18 Industriestaaten auf freiwilliger Basis Einschränkungen bei der Ausfuhr chemischer Grundsubstanzen. Letzte Woche kündigte ein Sprecher der „Australischen Gruppe“ in Genf an, derzeit bestehende Ausfuhrrestriktionen gegen ein Land würden aufgehoben, sobald dessen Parlament den C-Waffenvertrag ratifiziert. Deutschlands Botschafter von Wagner rechnet nach dieser Zusicherung nicht mehr mit formalen Vorbehalten gegen die Exportkontrollbestimmungen des Abkommens.
Wagner erwartet allerdings Vorbehalte gegen die Zusammensetzung des Exekutivrates bei der Haager C- Waffenbehörde. Dieses Gremium soll die letzte Entscheidungsinstanz in künftigen Streitfällen zwischen Unterzeichnerstaaten des Abkommens sein. Bei der Sitzung des Genfer C-Waffenausschusses äußerten sich am Freitag fast alle Delegationen unzufrieden mit der bislang ins Auge gefaßten Sitzverteilung in dem Exekutivrat. Die afrikanischen Vertreter setzten mit Hinweis auf die große Zahl der Staaten auf ihrem Kontinent einen zusätzlichen Sitz durch — gegen den scharfen Protest der asiatischen Länder, die auf die erheblich größere Zahl der Einwohner ihrer Erdregion verwiesen.
Bei den Vorschriften des Vertrages zur Vernichtung von Altbeständen setzten die wichtigsten C-Waffen-Herstellerstaaten dieses Jahrhunderts gravierende Einschränkungen durch. Die Zehnjahresfrist für die Vernichtung gilt nur für eigene C- Waffenvorräte eines Staates, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Abkommens auf dem eigenen Territorium lagern. C-Waffen, die auf fremden Territorien deponiert oder in internationalen Gewässern versenkt wurden — etwa die rund 300.000t Nervengase in der Ostsee —, bleiben von dem Vertrag fast vollständig unberührt. C-Waffen in internationalen Gewässern müssen von den Verursacherstaaten nur geborgen und vernichtet werden, wenn sie nach 1985 versenkt wurden. Für auf fremdem Territorium deponierte C-Waffen gilt das Stichjahr 1977. Bis heute ist nicht bekannt geworden, daß ein Staat nach diesen beiden Daten C-Waffen außerhalb der eigenen Grenzen abgelagert hätte. Diese Vertragsregelungen wurden — gegen erhebliche Bedenken vor allem der skandinavischen Ostseeanrainer und Chinas — in der UNO-Abrüstungskonferenz von den USA, Rußland, Großbritannien, Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland durchgesetzt. Diese fünf Länder (beziehungsweise ihre Vorgängerstaaten) waren zwischen 1925 und Mitte der 70er Jahre für die Herstellung und Versenkung der heute in der Ostsee lagernden Chemiewaffen verantwortlich. Deren Ortung und Bergung würde nach Expertenschätzungen Milliarden kosten. Die in allmählich durchrostenden Behältern abgefüllten Nervengase sind eine ökologische Zeitbombe. Fische mit krebsartigen Geschwüren sowie schwere Verbrennungsunfälle an Ostseestränden sind erste Anzeichen für die kommende Katastrophe. Wegen der zwei Millionen C-Waffengranaten, die die japanische Armee im Krieg von 1937 in Nordchina hinterließ, hatte die Pekinger Delegation bei der UNO-Abrüstungskonferenz bis vor wenigen Wochen auf dem Jahr des Genfer Protokolls (1925) als Stichdatum für die Vernichtung außerhalb der eigenen Grenzen gelagerter C-Waffen bestanden. China ließ sich schließlich mit einer allgemein gehaltenen Vertragsformel zufriedenstellen, wonach die Beseitung vor 1977 auf fremdem Territorium deponierter C- Waffen in die bilaterale Verantwortung von Hersteller- und Lagerstaat fällt.
Botschafter Wagner geht davon aus, daß bei der formalen Absegnung des Vertragstextes in der UNO-Abrüstungskonferenz spätestens am 3.September „einige Staaten nicht zustimmen werden“. Diplomaten anderer Delegationen rechnen mit einem Nein Pakistans, Irans und möglicherweise Kubas.
Erneute Debatte in New York?
Das Begleitdokument, in das bis dahin sämtliche Vorbehalte einzelner Staaten aufgenommen werden, dürfte dann hingegen auf den Konsens aller 39 Konferenzmitglieder stoßen. Die formalen Vorbehalte könnten dazu führen, daß die New Yorker UNO-Vollversammlung die Diskussion zu den entsprechenden Vertragskapiteln wieder eröffnet. Wagner hält dies allerdings für „höchst unwahrscheinlich“. Noch niemals seit Gründung der UNO habe die Vollversammlung das Verhandlungsergebnis eines von ihr mit der Ausarbeitung eines Vertrages beauftragten Gremiums verändert.
Im Endergebnis könnte das jetzt gewählte Verfahren dazu führen, daß eine Reihe von Staaten, die verdächtigt werden, C-Waffen zu besitzen oder ihren Besitz anzustreben, dem Abkommen nicht beitreten. Im Fall Pakistan, das auch den Vertrag über die Weiterverbreitung von Atomwaffen von 1970 nicht unterschrieben hat, gehen Genfer Rüstungskontrolldiplomaten ohnehin davon aus. Doch gilt ihnen diese Aussicht inzwischen als das kleinere Übel im Vergleich zu der wachsenden Gefahr, daß der historische Moment für die Fertigstellung eines C- Waffenvertrages schon sehr bald vorüber sein könnte. Immerhin laufen die Genfer Beratungen bereits seit 1968.
In den letzten neun Jahren, in denen die Verhandlungen mit einem erneuerten Mandat der UNO-Vollversammlung wieder intensiv geführt wurden, gab es oft Anlässe, die zu Hoffnungen auf einen schnellen Vertragsabschluß verleiteten: Bushs Genfer Auftritt 1984, die positive Wende in der sowjetischen Haltung 1987, der Giftgasangriff Saddam Husseins auf die irakischen Kurden in Halabdscha 1988, die Affäre um die C-Waffenfabrik im lybischen Rabta 1989 und schließlich der befürchtete Einsatz irakischer C-Waffen im Golfkrieg 1991. Als besonders regelmäßiger Ankündiger eines C-Waffenvertrages erwies sich Ex- Bundesaußenminister Genscher. Genscher versuchte auf diese Weise Druck auszuüben auf die USA, die seit 1988 mehrfach für erhebliche Rückschläge bei den Genfer Verhandlungen sorgten: durch ihre Absicht, auch nach Inkrafttreten eines C-Waffenverbots auf Dauer einen kleinen „Abschreckungs“-vorrat zu behalten; durch das Ansinnen, die eigenen, neu entwickelten „binären“ Waffen nicht unter die Kategorie Chemiewaffen fallen zu lassen und damit vom Verbot auszunehmen; durch den Wunsch, die eigenen C- Waffenvorräte nicht innerhalb der vertraglichen Zehnjahresfrist zerstören zu müssen, sondern erst dann, wenn all die Staaten dem Abkommen beigetreten sind, die nach Washingtons Auffassung über C-Waffen verfügen; und schließlich mit den Verwässerungsvorschlägen für die Verifikationsbestimmungen des Vertrages vom Sommer letzten Jahres.
Vom Abschluß eines Chemiewaffenabkommens wird auch ein positiver Impuls erwartet für künftige Abrüstungs-und Rüstungskontrollbemühungen auf der multilateralen UNO-Ebene — sei es zur Einschränkung des Rüstungsexportes oder zur Verlängerung des Atomwaffensperrvertrages, über dessen Schicksal 1995 entschieden wird.
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