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Bonner Politiker fordern totale Blockade

■ Kohl will Einsatz deutscher Truppen im jugoslawischen Kriegsgebiet/ SPD reicht Verfassungsklage ein/ Flüchtlinge sollen Bestechungsgelder für Reise nach Deutschland gezahlt haben

Bonn (ap/afp/dpa) —Deutschland, so Kanzler Kohl, biete in seiner unentschiedenen Haltung gegenüber dem Völkermord in Serbien ein „jämmerliches“ Bild. „Unsere Position in der Welt, unser Ansehen in der Welt und unsere Fähigkeit zum Engagement sind in gar keiner Weise mehr in Übereinstimmung zu bringen“, sagte der CDU-Politiker am Samstag abend. Damit meinte das Regierungsoberhaupt allerdings nicht die völlig unzureichende Hilfe für Flüchtlinge aus dem Kriegsgebiet, sondern ein militärisches Eingreifen. Die SPD müsse jetzt endlich einer Änderung des Grundgesetzes zustimmen, forderte Kohl, damit Deutschland an militärischen Einsätzen teilnehmen könne.

Genau dieses Problem läßt die SPD jetzt vom Bundesverfassungsgericht verhandeln. Die Bundestagsfraktion hat in Karlsruhe Organklage gegen den Einsatz der Bundeswehr in der Adria eingereicht. Nach Ansicht der Fraktion hätte die Bundesregierung ihre Zustimmung zu einer militärischen Überwachung des UNO- Embargos gegen Serbien und Montenegro unter deutscher Beteiligung nur geben dürfen, wenn eine Entscheidung der verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit des Bundestages vorbehalten worden wäre.

Angesichts der jüngsten Bilder über Kriegsverbrechen in Bosnien- Herzegowina hat Kohl die Staatengemeinschaft zu einem härteren Vorgehen gegen Rest-Jugoslawien aufgefordert. Er schlug ein militärisches Eingreifen in Bosnien vor, um Hilfskonvois Schutz zu gewähren. Außerdem sprach er sich für eine totale See- und Landblockade gegen Serbien und Montenegro aus. Die Vereinten Nationen müßten angesichts des Völkermords mit „äußerster Härte und äußerster Schärfe“ reagieren.

Über die Parteigrenzen hinweg sprachen sich mehrere Bundestagsabgeordnete für Luftangriffe gegen serbische Stellungen in Bosnien- Herzegowina aus. Der SPD-Vorsitzende Björn Engholm lehnte jedoch einen internationalen Militärschlag nach wie vor strikt ab: „Wir müssen alle Möglichkeiten der politischen Einwirkung durchdiskutieren — massive Hilfestellungen, Embargo gezielt und total, Blauhelmeinsätze.“ Auch der frühere Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) plädierte für eine „Totalblockade“.

Bestechungsgeld für Flucht nach Deutschland?

Bei der zweiten Hilfsaktion für Kriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina sind am Wochenende wieder über 5.000 Kinder, Frauen und Männer mit Sonderzügen in der Bundesrepublik angekommen. Der Gesundheitszustand der Flüchtlinge sei im allgemeinen zufriedenstellend, sagte ein Sprecher des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) in Bonn. Sie wurden nach ihrer Ankunft auf die einzelnen Bundesländer verteilt und in Durchgangslager gebracht.

Nach einem Bericht der „Tagesschau“ haben Flüchtlinge in Kroatien Bestechungsgelder gezahlt, um auf die Züge nach Deutschland zu kommen. Ursprünglich hätten die sechs Züge aus der Stadt Karlovac abfahren sollen. Weil in Karlovac aber nur noch 1.400 Flüchtlinge warteten, sei der Abfahrtsort kurzfristig in die 50 Kilometer entfernte Stadt Varazdin und nach Zagreb verlegt worden, sagte ein DRK-Sprecher.

Laut „Tagesschau“ wurden in Karlovac in Müllcontainern Namenslisten gefunden, die beweisen, daß bei der Besetzung der Züge manipuliert wurde. In der Regel seien an die kroatischen Helfer 100 Mark Bestechungsgeld gezahlt worden. So hätten mehrere alleinstehende Mütter mit ihren Kindern zurückbleiben müssen. Wie es im Bonner Koordinierungsstab zur Flüchtlingshilfe hieß, wurde die kroatische Regierung um Aufklärung gebeten. Dies sei auch zugesichert worden. Die Auswahl der Flüchtlinge liegt bei den Behörden vor Ort und beim UN- Flüchtlingskommissariat. Eine neutrale Aufsicht oder eine Beschwerdestelle gibt es nicht.

Insgesamt halten sich über 230.000 Kriegsflüchtlinge vom Balkan in der BRD auf. Die meisten davon sind privat untergekommen. Bundeskanzler Kohl kündigte einen neuen Anlauf bei den EG-Partnern an, um weitere Flüchtlingshilfe zu ermöglichen. Die EG müsse angesichts des schrecklichen Unrechts mitten in Europa „noch wesentlich mehr tun als bisher“.

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