: Wer soll das alles lesen?
■ Lesemappen nach Wunsch und frei Haus / Kein Ärger mit dem Altpapier
Jeden Donnerstag, wenn die Frau vom Lesezirkel die neuen Mappen brachte, lagen die alten Zeitschriften schon Stunden vorher sauber gestapelt auf dem Stuhl in Omas Flur. Die unscheinbaren blauen Papierdeckel bargen für uns Kinder Überraschungen und Geheimnisse: Die bunte Welt der Zeitschriften. Oma war „Zweitleserin“, darum fehlte in dem einen oder anderen Heft schon mal eine Seite. Doch abbestellt hat sie den Lesezirkel nie. Auch nicht, als sie die Zeitschriften schon längst nicht mehr las. Der „armen Frau“, die die Mappen jede Woche brachte, mochte sie das nicht antun.
„Fast jeder hat eine Oma oder eine Tante, die den Lesezirkel abonniert hatte.“ Michael Hauhuth kennt diese Geschichten zur Genüge. In seinem Lager, in einem Bremer Hinterhaus stapeln sich die in rotes Papier eingehefteten Zeitschriften zu Tausenden in den dunklen Regalen. Die abblätternden Tapeten verströmen Sechziger-Jahre-Charme. Es riecht nach frischbedrucktem Papier.
Jedem seine Lesemappe
Mit einem Griff hat Hauhuth das B-Sortiment zur Hand: Stern, Spiegel, Bunte, Frau im Spiegel, Neue Welt, eine Fernsehzeitschrift und alle zwei Wochen die Brigitte oder die Freundin. Der dicke Stern liegt immer obenauf.
Im A-Sortiment gibt es zusätzlich die Quick und die Neue Revue. Doch „manche wollen diese 'Schundzeitschriften' nicht“. Kein Problem, dann wird abgespeckt. Und für die ganz Wählerischen gibt es bei Rohrbachs Lese
Sortiert, gestapelt, fertig zum Lesen. Bitte nichts Zerfleddern! Foto: Christoph Holzapfel
mappen, die Michael Hauhuth vor einem Jahr übernommen hat, auch eine Wahlmappe: Aus 50Zeitschriftentiteln von Auto — Motor und Sport bis Zuhause kann jeder sich für 15,90 Mark seine individuelle wöchentliche aktuelle Lesemappe zusammenstel
len. Mindestabnahme: 6 Hefte.
Sechs oder mehr Zeitschriften wöchentlich: Wer soll das alles lesen, Herr Hauhuth? „Es gibt doch viele Leute, die lesen und sei es nur als Bettlektüre.“ Und anscheinend werden es wieder mehr: 1960, als das Fernsehen die bundesdeutschen Wohnzimmer eroberte, erlitten die Lesezirkel „unheimliche Einbrüche“, berichtet der Firmeninhaber. Doch dann ging es wieder aufwärts. Und obwohl sich „kein Lesezirkel in die Karten gucken läßt“ — also auch Michael Hauhuth nicht — waren die Planungsdaten der Branche Ende der Siebziger „erheblich schlechter“ als heute.
Heute erreicht eine Lesezirkel- Mappe durchschnittlich 11 Millionen Leser, sagt die Mediaanalyse. Wenn eine Mappe zwölfmal in Umlauf geschickt wird, steigt die Zahl auf das Dreifache. Bei Rohrbach werden die Mappen höchstens neunmal ausgeliefert. Und auch die Neunt-Leser müssen nicht mit völlig zerfledderten Exemplaren vorlieb nehmen. Zerlesene Zeitschriften, und die zerlesensten sind die, die von Friseuren oder aus Arztpraxen kommen, wandern bei Rohrbach ins Altpapier. „Wir bitten die Kunden, die Zeitschriften möglichst sorgfältig zu behandeln, aber wenn eine Zeitschrift völlig aufgelöst zurückkommt, sagen wir niemandem: Sie müssen den Preis bezahlen.“
Die Leser: jung und gebildet
„Die Lesezirkel-Leser sind jung, besser ausgebildet und häufig aus Haushalten mit höherem Einkommen“, sagt die Media-Analyse. 50 Mark monatlich für das Erstleserecht einer durchschnittlichen Mappe, das können sich nur Besserverdienende leisten, meint Michael Hauhuth. Haushalte mit geringerem Einkommen würden dann eben Dritt- oder Viertleser. 3000 Kunden in der Stadt und im Umland beliefert Michael Hauhuth aus Bremen und Bremerhaven, wo er vor einigen Jahren den Lesezirkel seines Vaters übernommen hat. Er schätzt, daß 70 Prozent seiner Mappen in Privathaushalte gehen. Der Rest wird „öffentlich ausgelegt“: in Kneipen, beim Zahnarzt, beim Rechtsanwalt.
In Bremerhaven, wo Hauhuth die Wahlmappen vor etwa fünf Jahren ins Programm nahm, als alle anderen Lesezirkel das auch machten, machen sie bereits 35 Prozent seines Geschäftsvolumens aus. Und warum abonniert jemand eine Lesemappe? „Man zahlt nur zwanzig bis dreißig Prozent des Kaufpreises für die neuen Zeitschriften, und es ist ja nicht so, daß man immer alles lesen möchte, was in einer Zeitschrift drin steht.“ Hauhuth hält Lesemappen, auch im Zweit- oder Dritt-Abonnement für eine gute Vertiefungslektüre. Das neuste wisse man eh schon aus den Fernsehnachrichten.
Wie überall hat auch auf dem Lesemappen-Markt eine Konzentration stattgefunden. „In Bremerhaven gab es vor vierzig Jahren noch 23 Lesezirkel“, erzählt Hauhuth, „jetzt gibt es nur noch mich“. Mit dem Fahrrad hat sein Vater 1952 die ersten Kunden beliefert. Und die Zeitschriften mußte er noch am Kiosk kaufen, weil die Verlage sich weigerten, ihm die neuesten Ausgaben zum Vorzugspreis zu liefern. Inzwischen gibt es in der Republik noch 250 Lesezirkel. Manche vertreiben ihre Mappen bundesweit, aber viele sind kleine Familienbetriebe wie Rohrbachs Lesemappen: Sechs Mitarbeiterinnen heften die Lesemappen ab und bringen sie zu den Kunden. Geheftet wird bei Rohrbachs neuerdings „halbautomatisch“ an einer Maschine, die aussieht, als stamme sie aus Zeiten der ersten industriellen Revolution. In Bremerhaven arbeiten auch der Vater, Hauhuths Frau und seine Schwägerin mit.
Zeitungen kommen auch bei Schnee und Eis
Jeden Dienstag stapeln sich in den dunkel getäfelten Geschäftsräumen in Bremen an die 10.000 frischgedruckte Zeitschriften: Lesezirkel werden von den Verlagen noch vor den Großhändlern beliefert. Mittwochs erhalten die ersten Kunden ihre Mappen. Wer nicht zu Hause ist, kann die alten Zeitschriften vor die Tür legen und findet, wenn er nach Hause kommt, die neuen vor. „Wir liefern immer“, sagt Michael Hauhuth, auch bei Wind, Regen und Schneekatastrophe.
Lesezirkel sind so alt wie die Zeitungen selbst. Im 17ten Jahrhundert waren die Journale und Gazetten noch so teuer, daß kaum ein Bürger sich den Luxus einer eigenen Zeitung leisten konnte und sie daher mit anderen teilte. Schon im 18ten Jahrhundert begannen Buchhändler, die Lesezirkel zu kommerzialisieren und legten in ihren Hinterzimmern die neuesten Zeitungen zur Lektüre aus. In ihrer heutigen Form bestehen die Lesezirkel seit gut hundert Jahren.
„Wir sprechen die Masse an“, sagt Michael Hauhuth. Gleichzeitig nehmen die Lesezirkel aus dem immer vielfältiger werdenden Zeitschriftenmarkt immer mehr Titel ins Programm, um individuelle Wünsche zu erfüllen. Die Branche gibt sich optimistisch. In Zeiten wachsender Altpapierberge haben die Lesemappenvertreiber ein gutes Argument auf ihrer Seite: den Umweltschutz.
Diemut Roether
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