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Westorientierung oder Rückzug

Beladen mit dem sowjetischen Machterbe, sucht Rußland eine außenpolitische Neudefinition  ■ VON CHRISTIAN SEMLER

Die Sowjetunion war Weltmacht gewesen nicht kraft ihrer ökonomischen Potenzen oder weil sie ein überlegenes zivilisatorisches Modell verkörpert hätte, sondern schlicht und einfach wegen ihrer militärischen Stärke. In den Jahren vor dem Ausbruch der tödlichen Krise des sowjetischen Systems war diese Stärke oft genug als entscheidende Schwäche analysiert worden, von dem ehemaligen Außenminister Eduard Schewardnadse (nachzulesen in seinem Buch „Die Zukunft gehört der Freiheit“), aber auch von Präsident Gorbatschow selber. Die Grundthese der Reformer war, daß das Ringen um Welthegemonie mit den USA die Sowjetunion ökonomisch, politisch und moralisch ruiniert hätte.

Praktische Konsequenz des auf globale Zusammenarbeit orientierten „Neuen Denkens“ war die Wende in der Sicherheitspolitik und die Preisgabe der osteuropäischen Einflußzone einschließlich der DDR. Die neue Militärdoktrin der „hinreichenden Sicherheit“ machte den Weg frei zu ersten echten Abrüstungsschritten, während das Einverständnis mit dem Prinzip gegenseitiger, öffentlicher Kontrolle vertrauensbildende Maßnamen in großem Umfang ermöglichte. Das „Neue Denken“ Gorbatschows hatte indes eine unübersteigbare Erkenntnisschranke: es machte halt vor der Existenz des sowjetischen Imperiums.

Noch in seinen letzten Stellungnahmen vor dem Augustputsch im letzten Jahr appellierte der sowjetische Präsident verzweifelt an die Chefs der ehemaligen Sowjetrepubliken, an „das Volk“ und an den Westen, die Sowjetunion zu erhalten. Speziell in seiner Argumentation an die westliche Adresse verwies Gorbatschow darauf, daß nur der Erhalt einer bipolaren, sich auf das gemeinsame Handeln der beiden Supermächte stützenden internationalen Politik den Weltfrieden sichern könne. Die Sowjetunion müsse Supermacht bleiben. Sie könne dies aber nur, wenn den nunmehr souveränen Sowjetrepubliken eine starke, handlungsfähige Zentrale zur Verfügung stünde.

Lange Zeit war der Westen, insbesondere die Bush-Administration in den USA, im Bann dieses Arguments. Die abwartende Haltung angesichts des Unabhängigkeitskampfs der baltischen Staaten ist dafür ebenso Beleg wie die barsche Zurechtweisung der Ukrainer, gefälligst im Verbund der Union zu bleiben.

Selbstfindung

Die Vorstellung von Macht und Größe des sowjetischen Imperiums war tief eingegraben in die kollektive Imagination des „sowjetischen“ Menschen. Dieses Gefühl speiste sich, nachdem der Gedankenvorrat des „sozialistischen Internationalismus“ aufgezehrt war, zunehmend aus den Quellen der russischen Geschichte. Tatsächlich haben die für die russische Selbstfindung prägenden Autoren — vom liberalen „westlichen“ Puschkin bis zum konservativ-messianischen „östlichen“ Dostojewski — ohne Ausnahme die Expansion des russischen Imperiums gefeiert. Sonja Margolina, die in Berlin lebende russische Publizistin, geht in ihrer Analyse des Phänomens so weit, die Idee des Imperiums zum bestimmenden Faktor russischer Identität zu erklären. Würden sich die unterworfenen Nationen losreißen, so würde auch Rußland selbst untergehen.

Paradoxerweise war die führende Nation des Sowjetreiches gleichzeitig die machtloseste. Zwar dominierte die russischsprachige Nomenklatura in allen Republiken, die baltischen Staaten und Zentralasien wurden von regelrechten Russifizierungskampagnen heimgesucht, aber die russische Partei hatte nicht einmal ein eigenes Zentralkomitee, und die staatlichen Institutionen Rußlands führten ein Schattendasein neben der sowjetischen Zentrale.

Als Boris Jelzin 1990 die Republik Rußland proklamierte, war dem Sowjetreich die Todesstunde eingeläutet. Anders als Gorbatschow, der die baltischen Republiken mit Einschüchterung und Erpressung im Rahmen des Reiches halten wollte, billigten die russischen Demokraten und Jelzin ihnen uneingeschränkt das Selbstbestimmungsrecht zu. Mehr noch: Jelzin forderte die im Baltikum eingesetzten sowjetischen Soldaten dazu auf, im Fall eines Feuerbefehls den Gehorsam zu verweigern. Diese Haltung war alles andere als billiger Populismus, entfremdete sie doch mögliche Koalitionspartner aus den Reihen der Intelligenz, die zwar demokratische Reformen befürworteten, aber, aus „Stabilitätsgründen“, für den wenigstens zeitweiligen Erhalt des Reiches eintraten.

Die damals im demokratischen Lager aufgebrochene Kontroverse setzt sich heute in doppelter Weise fort: im Streit um das Selbstbestimmungsrecht der die russische Föderation konstituierenden Nationen und in der Frage, ob und mit welchen Mitteln Rußland die Rechte der russischsprachigen Minderheiten in den jetzt selbständigen Staaten der ehemaligen Union schützen solle.

Ende des Zentralismus

Die Auflösung der Sowjetunion beendete auch jede zentral geführte Außenpolitik. Zwar hatten die diversen Verfassungen der Union den Republiken auf dem Papier die Möglichkeit einer selbständigen Außenpolitik eingeräumt, aber das Staatssystem des demokratischen Zentralismus degradierte die Republik-Außenminister zu schieren Repräsentationsfiguren, auch wenn sie, wie die Ukraine und Weißrußland, in der UNO Sitz und Stimme hatten. Obwohl nicht nur Rußland, sondern alle Staaten der GUS Rechtsnachfolger beziehungsweise Fortsetzer der Sowjetunion sind, hat doch die russische Föderation den gesamten Apparat des Außenministeriums der Union geerbt, während die anderen Republiken politisch und organisatorisch Neuland betreten.

Dieser zentrale Apparat, in der fünfjährigen Amtszeit Schewardnadses auf enges Bündnis mit den USA und Westeuropa umgepolt, sieht sich jetzt mit der Frage konfrontiert, was eigentlich die Prioritäten der russischen Politik sein sollen, oder, noch grundsätzlicher, worin die russischen „nationalen Interessen“ bestehen. Soll das Schwergewicht der russischen Außenpolitik darauf gelegt werden, den Zusammenhalt der GUS zu stärken, soll die Orientierung auf „den Westen“ fortgesetzt werden oder sollen die Beziehungen zu China und der islamischen Welt gleichgewichtig entwickelt werden? Wie soll das Gesicht der künftigen Sicherheitspolitik Rußlands aussehen?

Im März dieses Jahres hat das russische Außenministerium unter dem „Westler“ Kosyrew ein Konzeptpapier vorgelegt, das eine schroffe Kontroverse auslöste. Das Dokument bezeichnet zwei Rahmenbedingungen, in die sich die russische Außenpolitik einfügen müsse: die Festigung der demokratischen Institutionen und den wirtschaftlichen Wiederaufbau, bei gleichzeitiger Integration der nationalen in die Weltökonomie. Diese Bedingungen legen das Schwergewicht der Außenpolitik auf den westeuropäischen Raum und die USA fest. Zwar wird davon gesprochen, daß der GUS-Zusammenhalt gestärkt werden müsse, und das Dukument warnt vor der Erosion der politischen und ökonomischen Beziehungen zu Osteuropa, aber gleichzeitig wird ein realistisches Bild von den Entwicklungsmöglichkeiten der GUS entworfen.

Bezüglich Europas wird das Potential der KSZE hervorgehoben und dem Integrationsprozeß der EG, dem zukünftig wichtigsten Partner, eine günstige Prognose gestellt. Mit Japan soll ein Friedensvertrag geschlossen und die Kurilen sollen schrittweise zurückgegeben werden. Für den Nahen Osten wird gefordert, den Friedensprozeß zu unterstützen und die Beziehungen zu den „moderaten“ Staaten auszubauen. In der dritten Welt soll das Schwergewicht der Beziehungen auf die „vielversprechendsten“ Länder gelegt werden, sprich diejenigen, die den industriellen take off hinter sich haben.

Die Kritik an dem Konzeptpapier Kosyrews geht im wesentlichen in zwei Richtungen: ihm wird vorgeworfen, so Parlamentspräsident Ruslan Chasbulatow, es vernachlässige die Probleme, die zwischen Rußland und den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken bestünden, wie es auch die Möglichkeiten des GUS-Zusammenschlusses nicht ausschöpfe. Es überbetone die „Westorientierung“, spiele die zentrale Bedeutung der VR China für die Asienpolitik Rußlands herunter und biete kein Konzept für das Verhältnis zu den islamischen Staaten. Statt eines blauäugigen Vertrauens in die Hilfsbereitschaft westlicher Staaten und emphatischer Bekenntnisse zu Demokratie und Menschenrechten solle sich Rußland, so der China-Experte Sergej Gontscharow, von vernünftigem Egoismus leiten lassen.

Sicher ist die Kritik an dem Konzeptpapier berechtigt, soweit sie das Fehlen konkreter Handlungsanweisungen, die Abstraktheit der Analyse beklagt. Aber hinter den Anschuldigungen scheint der alte, die russische Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte bestimmende Gegensatz zwischen „Westlern“ und „Slawophilen“ auf. Er erhält eine aktuelle Zuspitzung durch die massive nationalistische Propaganda, die der Regierung vorwirft, sie verrate die russischen Minderheiten in der Ukraine, in Moldawien, den baltischen Staaten und Zentralasien.

Wird die Außenpolitik Rußlands diesem sich verstärkenden Druck nachgeben und eine Wendung „nach innen“ vollziehen? Kosyrew und seine Mannschaft hängen an der Vorstellung globaler, umfassender Sicherheit, die soziale und ökologische Faktoren als den militärischen gleichberechtigt einschließt. Sie haben das alte Feindbild abgeworfen. Aber es ist schwer, ohne Feinde zu leben, ohne den „dekadenten Westen“, ohne „die ukrainischen Chauvinisten“, ohne die „islamischen Fanatiker“. Die Ideale des Jahres 1990 und die auf ihnen gründenden außenpolitischen Prioritäten schwanken.

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