Wohltemperierte Bilderbögen

■ Argentinisches Tanztheater bei den „Movimientos '92“

Wie ein Traum gleiten die Bilder am Auge des Betrachters vorbei, die Schrecken und Ängste einer unruhigen Nacht scheinen in den Szenen der argentinischen Theatertruppe „La Organización Negra“ noch einmal Gestalt angenommen zu haben. Ein junger Mann im Schlafanzug streift durch eine surreale Bühnenlandschaft und erlebt die seltsamsten Abenteuer. Er begegnet seinem Doppelgänger, wird von einem freundlich blinkenden Leuchtturm verfolgt und bleibt irgendwann am Zeiger einer riesigen Rathausuhr hängen, bis sein Arm abreißt und er in die Tiefe stürzt. Ungeheuerliches ereignet sich im blauen Dämmerlicht dieser Nacht, und der einsame Träumer taumelt von einer Episode zur nächsten.

„Almas Examinadas“ nennen die neun Schauspieler aus Buenos Aires das 45minütige Tanztheaterstück, mit dem sie jetzt ihr Gastspiel beim Hamburger Sommertheater-Festival eröffneten. Der Abend beginnt vielversprechend, doch die Kraft der ersten Bilder verflüchtigt sich allzu schnell. Der anfänglichen Faszination folgt die Langeweile, die bizarre Traumchoreographie entpuppt sich als belanglose Nummernrevue — unterhaltsam zwar und technisch gut gemacht, aber auf Dauer nicht fesselnd. Mit allerlei technischem Schnickschnack werden die Bildeinfälle in Szene gesetzt, doch der penetrante Drang nach Originalität macht sich unangenehm bemerkbar.

Ein innerer Zusammenhang der Bilder ist nicht erkennbar, surrealistische Bildzitate und Stummfilmszenen purzeln munter durcheinander. Wie von Geisterhand entzünden sich die Kerzen auf einer Geburtstagstorte, sieben Feuerwehrleute mit roten Helmen hüpfen herein und feiern Kindergeburtstag. Eine Palette mit Cola-Flaschen wird auf den Tisch geknallt, und die Bewegungen des Trinkens beschleunigen sich zu einer aberwitzigen Slapstick-Choreographie. Solche Szenen reizen zum Lachen, aber alle weitergehenden Fragen prallen ab an dieser polierten Oberflächen-Ästhetik.

Hatte der Festivalchef Dieter Jaenicke nicht „die radikalste Gruppe der neuen Theaterszene Lateinamerikas“ angekündigt? Doch von radikaler Bühnenkunst ist dieses Spektakel in der Hamburger Kampnagelfabrik weit entfernt. Auch „Argumentum Ornithologicum“, das zweite Stück des Abends, kommt über vordergründige Bildanreize nicht hinaus. Die Schauspieler der „Organización“ sind diesmal splitternackt, und im milden Licht der Scheinwerfer formen sie menschliche Stilleben in anmutigen Variationen. Mal liegen sie platt übereinandergestapelt, mal bilden sie raffinierte Pyramiden oder machen einen kollektiven Kopfstand an der Wand.

Mag sein, daß diese provozierende Körperlichkeit bei den Aufführungen in Buenos Aires ihre Wirkung gezeigt hat, in der Hamburger Kampnagelfabrik wirken diese arrangierten Männerkörper nur noch albern. Vielleicht hätten die jungen Wilden aus der Kunstszene von Buenos Aires dem Straßentheater treu bleiben sollen, anstatt solche wohltemperierten Bilderbögen für geschlossene Häuser zu produzieren.

Was diese inszenierte Nacktheit mit dem Dichter Jorge Luis Borges und seinem kleinen Prosastück „Argumentum Ornithologicum“ zu tun hat, bleibt dem Betrachter verborgen. Irgendwie muß der skurrile Gottesbeweis von Borges die künstlerische Arbeit inspiriert haben. Und damit das klar ist, wird der Text gegen Ende der Aufführung aus dem Off gesprochen, während zwei Darsteller mit herzhaftem Biß ihre Bücher verspeisen.Rolf Suhl

Vom 27. bis 30.August ist „La Organización Negra“ auch bei der „Ibero-Americana“ in Köln im Stollwerck zu sehen.