Sirnak: Berichte über Massaker

■ Große Teile der kurdisch besiedelten Stadt sind verbrannt/ PKK bestreitet Guerilla-Überfall/ Ausgangssperre hält an/ Regierung erklärt Kämpfe für beendet/ Militärs durchkämmen jedes Haus

Berlin (taz/dpa/AP) — „Die Stadt bot einen erschreckenden Anblick. Alles war voll mit Tierkadavern, alles war voll Blut — durch nichts mehr von einem Kriegsschauplatz zu unterscheiden. Viele Lehmhäuser waren nur noch Ruinen, aus denen Rauch aufstieg. Die Häuser waren mit schweren Waffen beschossen worden. Meiner Ansicht nach müssen alle darin befindlichen Menschen umgekommen sein. Aus den Häusern gab es kein Entkommen.“

Der Augenzeugenbericht aus der kurdisch-türkischen Provinzstadt Sirnak stammt von dem Versicherungsangestellten Kurtulus Gülpinar. In der Nacht vom Dienstag auf Mittwoch dieser Woche, als dort die ersten Schüsse fielen und Raketen einschlugen, hielt er sich im Palasthotel im Bazarviertel der 25.000 EinwohnerInnen zählenden Stadt auf. Ein Schuß verletzte ihn am Fuß. Doch während der Nacht gab es kein Entkommen. Erst am nächsten Morgen wurde der Hotelgast zusammen mit dem Personal in das Polizeipräsidium von Sirnak gebracht. Auf dem Weg dorthin sah er die Verwüstungen der Vornacht. Gestern berichtete er der Öffentlichkeit davon.

Bis dahin waren ausschließlich Informationen des Militärs aus der hermetisch abgeriegelten Stadt nach außen gelangt. Nach dieser Version, die sich auch der türkische Innenminister Seszgin zu eigen machte, hatten 1.500 schwerbewaffnete Guerilleros der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Sirnak in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch mit Raketen und Maschinengewehren angegriffen. Sofort wurde eine Ausgangssperre verhängt. Dennoch habe es eine Nacht lang heftige Kämpfe gegeben, bei denen ein Angehöriger der Sicherheitskräfte ums Leben gekommen sei. Am Mittwoch mittag meldete das Militär, es habe Sirnak „voll unter Kontrolle“. Die Kampfhandlungen, so behauptete die Regierung am Mittwoch, seien beendet. Einen Tag später warteten die Militärs mit der Nachricht auf, sie hätten mehr als 100 „Separatisten der PKK“ in Sirnak getötet. Gestern erklärten die Behörden die Kämpfe erneut für beendet. Als Opferbilanz der eigenen Seite nannten sie drei tote Soldaten, einen toten Polizisten und mehrere verletzte ZivilistInnen. Aus „Rücksicht auf die Zivilbevölkerung“ hätten sie behutsamer und langsamer vorgehen müssen als ursprünglich geplant, hieß es.

Die totale Ausgangssperre in Sirnak blieb bestehen. Auch gestern wieder durchkämmten Soldaten Häuser in Sirnak. Sämtliche Ein- und Ausgangswege der Stadt werden streng kontrolliert. Die AnwohnerInnen wurden aufgerufen, versteckte Rebellen zu denunzieren.

Oppositionelle in der Türkei und die türkischen Medien bestreiten die offizielle Version der Ereignisse. Sie sprechen von zahlreichen Opfern unter der Zivilbevölkerung. Der in der Provinz Sirnak gewählte Parlamentsabgeordnete der Arbeitspartei des Volkes (HEP), Selim Sadak, schätzt, daß in den vergangenen drei Tagen mindestens 500 ZivilistInnen in Sirnak ums Leben kamen. Hunderte Zivilisten seien im Fußballstadium vernommen worden. Augenzeugen berichten von Dutzenden zerstörter Häuser und Geschäfte in der Stadt. Viele Häuser sollen noch am Donnerstag in Flammen gestanden haben. Nach anderen Berichten sollen vier ganze Stadtteile — Güzelyurt, Gazi, Ismetpasa und Cuhuriyet — abgebrannt sein. Ein Anwohner sagte am Donnerstag am Telefon: „Soldaten übergießen die Häuser und Läden mit Benzin, gehen ein paar Schritte zurück und zünden sie dann an. Ich konnte beobachten, wie Spezialkommandos auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Elektrogeschäft ausplünderten. Seit zwei Tagen gibt es weder Wasser noch Strom und auch kein Brot.“

Dementis kommen auch aus dem Umfeld der PKK. Ihre Zeitung Berxwedan bezweifelt, daß es überhaupt einen Guerilla-Überfall auf Sirnak gegeben hat. Ein Sprecher des Kölner Kurdistan-Komitees erklärte: „Der Überfall entspricht nicht der Guerilla-Taktik. Wir glauben, es handelt sich um einen Einschüchterungsversuch des türkischen Militärs gegen die kurdische Zivilbevölkerung. In Sirnak hat es im März dieses Jahres eine vergleichbare Militäroperation gegeben.“

Der Generalsekretär der „Arbeitspartei des Volkes“ (HEP), Ahmet Karatas machte die Regierung für ein mögliches Massaker verantwortlich. Mit seiner Behauptung, in den Häusern Sirnaks versteckten sich Rebellen, habe Innenminister Sezgin die Militärs auf zivile Ziele hingewiesen. Dorothea Hahn