Kein Kopffüßler

■ Vorgestern wurde eine Gedenktafel am Wohnhaus des Theaterkritikers Friedrich Luft enthüllt

Schöneberg, Maienstraße 4: Mitten zwischen Neubau- Wohnblöcken eine kleine Backsteinvilla mit grünen Fensterläden, schmiedeeisernem Balkongitter und — seit vorgestern — einer Bronzetafel. Um die Inschrift zu lesen, muß man den Vorgarten betreten: Friedrich Luft, die »Stimme der Kritik« (1911-1990) wohnte in diesem Haus 50 Jahre lang. Darüber ist eine Karikatur von Friedrich Dürrenmatt eingraviert. 1963 angefertigt, zeigt sie Lufts Kopf mit der vom Wirtschaftswunderspeck wohlgemästeten Kinnpartie über winzigen Insektenbeinchen, die auf Stelzen balancieren. Durch das dünne Ärmchen ist eine überdimensionale Feder geschoben — Luft: ein Kopffüßler, die Feder der Kritik.

So originell die Zeichnung ist, sie trifft den Theaterkritiker Luft eigentlich nicht. Denn der hatte keine spitze Feder wie Alfred Kerr und war keineswegs kopflastig wie vielleicht Herbert Ihering. Luft nannte das Theater seine »Geliebte«, und in 45jährigem Parkettdienst hielt er ihr die Treue. Auch wenn er seit den siebziger Jahren mehrfach angab, er würde diesen Beruf nicht noch einmal ergreifen, wenn er retrospektiv die Möglichkeit zur Wahl hätte, so stimmte er doch bis zuletzt das Hohelied auf die Bühnenkunst an, wenn ihn eine Aufführung unterhielt oder eine schauspielerische Leistung sein Entzücken erregte.

Diese drei Elemente bestimmten sein Urteil, das nicht allzu häufig wirklich scharf war. War er enttäuscht, so rettete er sich und die Beteiligten oft dadurch, daß er der vorhergehenden Inszenierung des Regisseurs, eines früheren Stückes des Dramatikers, einer anderen Rolle des Protagonisten rühmend gedachte — und die Hörer und Leser wußten: diesmal war es also nichts.

Luft war ein ungeheuer konstanter Mensch. Zehn Jahre arbeitete er als Feuilletonchef bei der amerikanischen Neuen Zeitung, danach hielt er publizistisch dem Springer-Verlag die Treue, erst bei der Welt, dann bei der Berliner Morgenpost. Vom ersten Sendetag des RIAS bis kurz vor seinem Tod meldete er sich dort als »Stimme der Kritik« zu Wort. In Friedenau geboren und aufgewachsen, zog er nur einmal um, eben in die Maienstraße, in das Elternhaus seiner Frau Heide.

Seine Tätigkeit in breitenwirksamen Medien verschaffte ihm eine ungeheure Popularität, die sein Stil aber auch rechtfertigte: Lufts Kritiken waren verständlich, flapsig, aber genau formuliert, und nie vergaß er, daß er zwar ein »Freigänger« war, die anderen aber alle für ihre Theaterkarten bezahlen mußten: der Kritiker als »Warentester«.

Als Friedrich Luft starb, ging in Berlin die Nachkriegszeit auf dem Theater zu Ende. Keiner neben oder nach ihm porträtierte Schauspieler, analysierte Spielpläne und verfolgte inszenatorische Werdegänge. Die Kritik im Dienste des Theaters gibt es nicht mehr. Lufts Theaterpassion verschaffte ihm Autorität, seine Seherfahrung machte ihn zu einer Institution. 1976 verlieh ihm der Berliner Senat den Professorentitel, 1978 erhielt er für sein feuilletonistisches und kritisches Oeuvre den ersten Ricarda-Huch-Preis der Stadt Darmstadt. Jetzt gibt es einen Friedrich- Luft-Kritikerpreis, und sein Name ist in Bronze graviert.

Brigitte Jungmann-Garde vom Bezirksamt Schöneberg hatte die oberen 120 der Berliner Kulturszene in den Vorgarten des Luft-Hauses geladen. Nach dem Tod von Heide Luft im April wird es jetzt von ihrer Nichte und deren Familie bewohnt. Nur wenige kamen, darunter auch der Regisseur und Bühnenbildner Willi Schmidt, der in den fünfziger Jahren mit Anouilh- und Giraudoux- Inszenierungen berühmt wurde. Mit Boleslaw Barlog, der wie jeden Sommer auf Sylt weilt und sich entschuldigen ließ, und dem ebenfalls abwesenden Bernhard Minetti ist Schmidt einer der letzten großen alten Theaterleute Berlins.

Überraschend viele nicht namentlich Geladene drängten sich auf dem Bürgersteig und auf der Straße, Neugierige, aber sicher auch viele Hörer und Hörerinnen Lufts, die dem Akt städtischer Ehrung beiwohnen wollten. Nach einleitenden Worten des Bezirksbürgermeisters und erinnernden Worten des Neffen und Namensvetters Prof. Friedrich Luft, nach würdigenden Worten des stellvertretenden RIAS-Intendanten i.R. Prof. Herbert Kundler und bevor dann Peter Matic ein Luft-Feuilleton verlas, schallte noch einmal die vielzitierte »Stimme der Kritik« vom 7.2. 1946 durch die kleine Straße — Luft, der immer sehr zurückgezogen lebte, wäre dies sicher peinlich gewesen. Petra Kohse