: TRAUMATISIERTE MONSTER Von Andrea Böhm
Die Sommerferien sind zu Ende. Amerikas Jugend geht wieder in die Schule, um sich für den ökonomischen Wettbewerb des 21. Jahrhunderts konkurrenzfähig zu machen. Konkurrenzfähigkeit — das heißt für die Highschool-Kids und College-Freshmen (StudienanfängerInnen): Who is hot and hip? Zu deutsch: Wer hat die schärfsten Klamotten, das geilste Mountainbike, den teuersten Rucksack, das neueste Nintendo-Game oder — in manchen Schulen — die größte Knarre? Deswegen sehen Amerikas Eltern dem alljährlichen Schulbeginn immer mit gemischten Gefühlen entgegen. Glücklich über die geistige Nahrung, die auf ihren Nachwuchs wartet, wissen sie doch auch, daß dieses Ereignis das Bankkonto gewaltig strapaziert. Seit zwei Wochen attackieren Kaufhäuser, Bekleidungsfirmen, Fahrradproduzenten und Schuhhersteller SchülerInnen und StudentInnen mit „Back-To-School“-Werbespots. Den Eltern wird gleichzeitig suggeriert, daß ihre Kinder zu traumatisierten Monstern mutieren, wenn sie nicht runderherum neu eingekleidet werden. Rund 60 Dollar für ein Paar Nike- oder Reebok- Turnschuhe. Die neuen 501-Levis- Jeans, diese Saison lässig geschnitten, für 60 Dollar. Dazu T-Shirts, Hemd oder Bluse für zusammen 30 Dollar. Summa summarum investieren Mom und Dad 160 Dollar für ein Outfit ihrer Kinder, wobei Ohrringe, Nasenstecker, Halsketten, Haargel sowie der Gang zum Friseur nicht mitgerechnet sind.
Die US-Jugend ist nach neuesten Erkenntnissen „multidimensional“, was eine vornehme Umschreibung für Konsumjunkies ist. Multidimensionale Jugendliche brauchen eine Ausstattung für das Klassenzimmer, eine für den Sportplatz, eine für den Nachmittag bei Mac Donald's, eine für die Party abends, eine für die Abschlußfeier — und eine, wenn die anderen in der Wäsche sind. Unvergessen der säuerliche Gesichtsausdruck jener Mutter, die auf die Frage eines Reporters, wieviel sie gerade für ihren 16jährigen Sprößling ausgegeben habe, antwortet: „400 Dollar — und nächstes Jahr wieder der gleiche Zirkus.“
Nun kollidiert die Multidimensionalität der Kids in manchen Teilen des Landes mit der Eindimensionalität der Schulleitung. Mancher „Principal“, wie der Schuldirektor in den USA genannt wird, hat eine Kleiderordnung erlassen. In South Central Los Angeles, wo die Schüler allmorgendlich einen Metalldetektor oder einen Security-Guard passieren, der ihnen beim Ablegen der Schußwaffen behilflich ist, hat unlängst ein Schulleiter alle Farben verbannt, die zu den Erkennungszeichen der lokalen Streetgangs gehören — darunter blau. Nun ist diese Verordnung im Land der Blue Jeans kaum durchzusetzen, und die multidimensionalen Schüler hätten beinahe dem Stundenplan eine neue Dimension hinzugefügt: die Demontage der Klassenzimmer. Jetzt sind Jeans wieder erlaubt.
Härter trifft es diejenigen, die das Schicksal an die „Spring High School“ in Houston, Texas verschlagen hat. Da werden die Jungs noch zu Kerlen erzogen, weswegen Direktorin Gloria Marshall Ringe in männlichen Ohrläppchen nicht duldet und jedes Haar, das über den T-Shirt- Kragen hinausragt, abschneiden läßt. Roger Roman, 16 Jahre alt, weigert sich bislang, seine schulterlange Mähne zu kürzen. Dafür hat er die ersten zwei Schultage in der Arrestzelle verbracht. Sein Haar werde er nicht für „diese schwachsinnige Regel“ opfern. Stand tall, Roger!
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