Urlaubsstimmung im Rettungsboot

„Auf Leben und Tod“ in der Luftblase: Die taz war bei den Dreharbeiten  ■ Vom Bootssteg Micha Schulze

Journalisten aus ihrer Redaktionsstube zu locken, ist gar nicht so einfach. Vor allem Medienjournalisten gelten als verwöhnt und lassen sich nicht mit einer lumpigen Filmvorführung und einem gewöhnlichen kalten Buffet abspeisen. Das hat sich weniger bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten herumgesprochen, doch dafür um so mehr bei den Kommerzsendern. RTLplus lud dazu ein, die „spektakulären Dreharbeiten“ für die Reality-TV-Serie „Auf Leben und Tod“ live mitzuerleben.

„Hilfe, Hilfe, meine Frau und mein Sohn sind im Boot eingesperrt“, schallt es zu nachtschlafener Zeit über die Berliner Havel. Die Bucht am Wannsee liegt in Nebel und Wolken verhüllt, Regentropfen prasseln auf das Wasser, die Masten der Segelboote am Ufer klingen im Wind wie ein Glockenspiel. Um 9Uhr in der Früh trippeln dreißig Journalisten und Fotografen über einen glitschigen Steg auf ein Polizeiboot, um eine gekenterte Segeljolle zu bestaunen. „Hilfe, Hilfe, meine Frau und mein Sohn sind im Boot eingesperrt“, ruft ein Schwimmer und rudert mit den Armen. Normalerweise scheppert um diese Uhrzeit der Wecker. Doch derart dramatische Szenen erleben Pressemenschen nicht jeden Tag. Kein Wunder, daß auf dem Polizeiboot regelrechte Urlaubsstimmung aufkommt.

„Wir drehen zum ersten Mal unsere Serie in Berlin“, unterbricht RTL-Sprecher Ulrich Horstmann den neuesten Tratsch aus den Redaktionen. Wahrscheinlich sind dem Kommerzsender in Nordrhein- Westfalen die Themen ausgegangen. Siebzehnmal schon ließ RTLplus dramatische Polizeieinsätze realitätsgetreu nachstellen, die zuletzt— trotz Moderation von Olaf Kracht— dreieinhalb Millionen Zuschauer fanden.

Für den ersten Hauptstadt-Dreh suchte RTL-Redakteur Martin Gerhardt einen besonders spektakulären Fall aus: Im Jahr 1973 hatte die Wasserschutzpolizei in letzter Minute eine 30jährige Frau und ihren drei Jahre alten Sohn aus einem gekenterten Segelboot retten können. Die glücklichen Verunglückten konnten in einer Luftblase überleben.

Doch so sehr sich die Journalisten auch bemühen, von der Luftblase ist nichts zu entdecken. Die liegt nämlich unter Wasser, unter dem gekenterten Segelboot versteckt. Vom überfüllten Polizeischiff sieht man nur den Schwimmer mit den Armen rudern. Nur ein kleiner Stoß, und die Reporterin der Bild-Zeitung würde sich zu ihm gesellen. Doch gerade noch rechtzeitig lenkt der gekenterte Mann die Aufmerksamkeit auf sich zurück. „Hilfe, Hilfe, meine Frau und mein Sohn sind in dem Boot eingesperrt“, blökt er. Ein weiteres Polizeiboot braust an und fischt ihn aus dem Wasser.

Das dritte Boot — ein Schlauchboot— wird im Fernsehen nicht zu sehen sein. Es soll den gekenterten Rufer während der Drehpausen aufnehmen. „Kann der denn nicht einmal eineinhalb Meter schwimmen“, ist der Schlauchbootführer sichtlich genervt. „Er ist halt ein Schauspieler“, meint ein anderer Mitarbeiter der Produktionsfirma Calypso verständnisvoll. Die Produktion ist alles andere als aufwendig. An drei Tagen ist die Sendung in der Kiste, nur 16 Darsteller werden gebraucht, und davon stellen Wasserschutzpolizei und Feuerwehr die meisten.

Nach einer Stunde auf dem Polizeiboot meldet sich der Magen zu Wort. Um pünktlich am Wannsee zu sein, blieb für das Vollwert-Frühstück keine Zeit. Doch statt einen Kaffee zu servieren, verfrachtet RTLplus die Presse auf das zweite Polizeiboot, damit die Hilferufe nun auch aus nächster Nähe bestaunt werden können. Nur der Reporter von der taz-Medienredaktion und einer Fernsehzeitschrift können sich drücken und bleiben auf dem Bootssteg zurück.

Vor lauter Langeweile kommen ihnen Zweifel am Reality-TV auf. An der Stelle, an der das TV-Segelboot mit dem sieben Meter langen Mast gekentert ist, ist die Havel gerade mal 1,50 Meter tief. Und die Unterwasser- und Luftblasenaufnahmen, verrät der Pressesprecher, werden am nächsten Tag in einem Schwimmbecken gedreht. Als die Kollegen gegen Mittag noch immer über die Havel schippern und ihnen „Hilfe, Hilfe, meine Frau und mein Sohn sind im Boot eingeschlossen“ entgegenschallt, sitze ich längst in der S-Bahn, von oben bis unten durchgefroren und ziemlich enttäuscht. Um mich noch einmal aus der Redaktionsstube zu locken, muß sich RTLplus ganz schön was einfallen lassen.