: Das Chaos und die verborgene Weltordnung
„Der Stein der Weisen“ — ein Buch des Physikers David Peat über die illusionäre Suche nach einer Weltformel ■ Von Mathias Bröckers
„Stein der Weisen“ nannten die Wissenschaftler früherer Zeiten das letzte Ziel ihrer wissenschaftlichen Forschung. Die Alchemisten des Mittelalters hofften, in ihm das grundlegende Prinzip der Verwandlung in der Natur zu finden, den Stein, der sich in Gold verwandelt. Die moderne Wissenschaft hat diese Suche nach einem Stein der Weisen als Illusion entzaubert — fundamentale Gesetze der Physik und Chemie, und nicht ein numinoser Urstoff- oder Stein, regieren die Abläufe in der Natur. Und doch, meint der Physiker F. David Peat, hat sich die naive Suche nach einem handfesten Ur- Grund bis heute gehalten: Zwar suchen die Wissenschaftler nicht mehr nach einer Substanz, aber ihre Suche nach einer letzten Gleichung, der Weltformel, die das ganze Universum erklärt, hat dieselbe magische Qualität wie der Stein der Weisen früherer Zeiten. Und einige von ihnen, wie der theoretische Physiker Stephan Hawking, behaupten sogar, daß diese letzte Gleichung, aus der sich vom Elementarteilchen bis zur Struktur des ganzen Universums alles ableiten läßt, innerhalb der nächsten zehn Jahre gefunden werden könne. Daß ein Wissenschaftler mit solchen Behauptungen auf phänomenalen Zuspruch beim Lese-Publikum stößt, zeigt, wie tief die Vorstellung von einem tatsächlich existierenden Stein der Weisen offenbar verbreitet ist. Und wie wenig sich letztlich seit den Zeiten geändert hat, als sich Alchimisten mit der beredeten These, unmittelbar vor dem Durchbruch zu stehen, Gunst und Sympathien sicherten.
Wenn David Peat sein Buch „Stein der Weisen“ genannt hat, dann nicht, weil er sich an einem Wettrennen bei dieser Suche beteiligen wollte — im Gegenteil: er vergleicht dieses wissenschaftliche Vorgehen mit einer auf dem Kopf stehenden Pyramide, bei der sich jede Theorie auf die jeweils darunterliegende, allgemeinere reduzieren läßt. Die Spitze, auf der diese Pyramide balanciert, ist die Weltformel und der Anfang des Universums demnach ein Zustand völliger Einfachheit und Symmetrie, aus dem sich erst durch „Symmetriebrüche“ die Vielfalt der Welt entwickelt.
Mysteriöse Quanten-Kommunikation
Dieses Weltbild und die dahintersteckende Methode der Naturwahrnehmung, greift Peat an — sein Buch kann als Plädoyer gelesen werden, die Pyramide vom Kopf wieder auf den Boden zu stellen. Nicht nur, weil die Konstruktion der Spitze (die Weltformel) immer noch unvollendet ist — sondern weil sich grundsätzliche Zweifel an der reduktionistischen Baumethode eingestellt haben. Peat zeichnet die Erschütterungen nach, die die Entdeckungen der Quantenphysik mit sich brachten: unter der scheinbaren Einfachheit der Atome verbarg sich eine vibrierende Landschaft von Wechselwirkungen. Die Naturforscher, die eben noch eine separierte Außenwelt neutral und objektiv erforscht hatten, sahen sich und ihre Objekte plötzlich als interaktive Teilnehmer eines ganzheitlichen Prozesses. Die Bahn eines Teilchens, die Frequenz einer Welle, entsteht erst dadurch, daß ein Beobachter nach ihr Ausschau hält — woher aber „weiß“ das Quantensystem, wonach gerade Ausschau gehalten wird? Bis heute hat die Physik für die mysteriöse Quanten-Kommunikation keine Lösung gefunden — und für Peat macht es keinen Sinn, in den noch kleineren Teilchen (Quarks, Hadronen, Superstrings) nach einer einfachen Formel dafür zu suchen. Die Quantenrätsel lösen sich nicht im Blick auf Teile, sondern nur im Blick auf das Ganze, „dem Zusammenhang zwischen materiellen Ereignissen in der Außenwelt und dem inneren Leben des Menschen“.
Der Schleimpilz ist kein Pilz, sondern ein amöbenähnlicher Einzeller und pflanzt sich durch einfache Teilung fort. Wenn irgendwann die Nahrung der Umgebung erschöpft ist, beginnen die einzelnen Zellen, sich nach innen zu bewegen, sie rücken näher zusammen und verklumpen zu einem komplexen Organismus. Wie eine „Schnecke“ kriecht dieses Wesen dann in ein neues Nahrungsgebiet und errichtet einen dünnen Stengel, von dessen Spitze sich in großer Zahl Sporen lösen und im Waldboden neue Kolonien bilden. Woher „weiß“ die individuelle Zelle, wann es Zeit ist, die Individualität aufzugeben und einen kollektiven Organismus zu bilden? Auch anhand anderer Prozesse — der Kristallbildung und des Verhaltens von Plasma und Supraleitern — verdeutlicht Peat, daß dieses Verhalten nicht aus der Information der Teile, sondern nur mit der aktiven Intelligenz des Ganzen zu erklären ist. David Peat lehrte Physik an einer Universität in Kanada, ist Mitarbeiter des Smithsonian-Instituts und knüpft mit „Der Stein der Weisen“ an seine beiden vorausgegangenen Bücher an. In „Die Entdeckung des Chaos“ (Hanser-Verlag) hatte er die fundamentale Rolle chaotischer Instabilität für die Ordnung selbstorganisierter Systeme beschrieben — eines der aufregendsten Gebiete der heutigen Wissenschaft. In „Synchronizität“ (Scherz-Verlag), so der Titel des zweiten Buchs, ging er jenem merkwürdig synchronen Zusammentreffen kausal nicht verbundener Geschehnisse nach, das dem Psychoanalytiker C. G. Jung erstmals zu denken gab, als er von einem seltenen Käfer sprach und just in diesem Augenblick ein solcher ins Zimmer flog. Schon hier hatte Peat in einer interdisziplinären Zusammenschau dafür plädiert, Materie und Geist nicht länger als zwei getrennte Eigenschaften, sondern als verschiedene Zustände einer Ganzheit zu betrachten.
Komplexität ist die Basis der neuen Wissenschaft
In „Der Stein der Weisen“ nimmt er diese Fäden wieder auf und webt sie— schreiberisch gekonnt und ohne Formelwissen nachvollziehbar — zu dem Geflecht zusammen, das die Basis der neuen Wissenschaft bildet: der Komplexität. Das Einfache (einschließlich der letzten Weltformel) ist ein Phänomen der Oberfläche, also allenfalls die Spitze der Pyramide — darunter herrscht, bis in die feinsten Verästelungen des Universums, unendliche Komplexität. Weder die klassische Geometrie noch mechanische Ordnungsprinzipien können dieses dynamische Wechselspiel von Chaos und Ordnung beschreiben — Peat zeichnet in diesem Buch die Konturen der neuen Kartographie eines auf jeder Ebene pulsierenden, schöpferischen, lebendigen Universums.
Die Entdeckungen der Quantenphysik, die in jüngster Zeit erforschten Prinzipien der Selbstorganisation und der Rolle des Chaos haben zu einer Grundlagendebatte in der Naturwissenschaft geführt, die alle Anzeichen einer fundamentalen Wende trägt. Auf diesem Hintergrund scheint die Kosmologie eines Stephan Hawking, mit der reinen Singularität eines Schwarzen Lochs am Anfang und Ende, wie das letzte Aufbäumen einer überkommenen Vorstellung, der guten alten Weltmaschine. Die „Kurze Geschichte der Zeit“ kann denn auch als konservative Beschwörung der alten, einfachen Wahrheiten — der ewigen Naturgesetze — gelesen werden, während Peats „Stein der Weisen“ dazu einlädt, sich den Herausforderungen der Zeit zu stellen. Der Dynamik eines Naturgeschehens, das von den Wirbeln der Galaxie bis in die Psyche des Einzelmenschen tief ineinander verschränkt ist.
F. David Peat: „Der Stein der Weisen — Chaos und verborgene Weltordnung“. Aus dem Amerikanischen von Hainer Kober. Verlag Hoffmann und Campe 1992, 285 Seiten, 38 DM
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