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Heilige und Narren

■ Gerald Thomas und die Opera Seca präsentieren „Saints and Clowns“ beim Sommertheater in Hamburg

Man hatte geahnt, daß der brasilianische Theateranarcho Gerald Thomas beim Hamburger Sommertheater die ersten Buhs und Pfiffe ernten würde. Bisher war es dem weltweit operierenden Regisseur noch immer gelungen, sein Publikum in begeisterte Anhänger und entschiedene Gegner zu spalten. Der Unmut des ansonsten äußerst beifallfreudigen Festivalpublikums entzündete sich diesmal allerdings nicht an dem eigenwilligen Regiestil des gerade 38jährigen Wunderknaben. Die großspurig annoncierte Weltaufführung von „Saints and Clowns“ in der Hamburger Kampnagelfabrik entpuppte sich als reichlich unfertiges Theaterspektakel.

Tatsächlich stand die neueste Produktion von Gerald Thomas und seiner Compagnie „Opera Seca“ unter einem ungünstigen Stern: Die Dekorationen trafen erst zwei Tage vor der Premiere am Festivalort ein, eine anständige Generalprobe kam trotz mehrerer Nachtschichten nicht mehr zustande. So hinterließen die „Saints and Clowns“ allenthalben Ratlosigkeit, obwohl dieser erste Wurf bereits die Spuren einer lebendigen und bei allem Klamauk auch intelligenten Theaterarbeit zeigt. Wieder setzt der Regisseur Thomas einen assoziativen Prozeß in Gang, der große Weltgeschichte und individuelles Schicksal, Ideologie und Alltagswissen in einen Strudel szenischer Ereignisse hineinreißt. Nichts scheint mehr gewiß in dieser grotesken Bühnenwelt, die Zeichen rotieren auf der Oberfläche und löschen die Bedeutungen aus.

In seinem ersten Festivalbeitrag, „The Flash and Crash Days“, hatte Gerald Thomas den infernalischen Zweikampf zwischen Mutter und Tochter dargestellt und dabei ein virtuoses Spektakel aus Slapstick und Schauermärchen angezettelt. Nun liefert der Regisseur einen recht eigenwilligen Kommentar zum Fall der Mauer und zum Zusammenbruch des Sowjetimperiums. Wieder steht die wunderbare Schauspielerin Fernanda Torres im Mittelpunkt des surrealen Geschehens. Auf gefährlich hohen Hackenschuhen stöckelt sie ans Rednerpult und versucht eine Rede zu halten. Sätze aus Gorbatschows Rücktrittsrede schleichen sich in den stockenden Vortrag; wütende und sehr private Haßtiraden unterminieren den anfangs noch recht gepflegten Redefluß.

Große Politik und private Emotionen projiziert Thomas hemmungslos ineinander, politische Beschwichtigungsformeln und persönliches Unglück geraten in einen komischen Konflikt. Irgendwann bricht die mächtige Steinmauer zusammen und lenkt den Blick in die Tiefe einer altmodischen Kulissenbühne. Auf der mit Kunstrasen bespannten Spielfläche tummelt sich ein äußerst skurriles Typensortiment: Ein Steinzeitmensch mit Gummikeule trifft einen melancholischen Mann mit Ohrenmütze und blauem Drillichanzug, ein Spießer mit Pepitahütchen und Kamera macht sich über die unglückliche Rednerin her.

Thomas' Theaterbewohner sind in das historische Vakuum der Post- Gorbatschow-Ära geworfen, und der Meister treibt seine derben Scherze mit ihnen. Immer wieder dröhnen Fußtritte aus dem Off, und die Figuren lauschen diesen Geräuschen wie den Botschaften einer metaphysischen Instanz. Man blättert in einem großen roten Buch, doch statt einer Lösung findet man bloß einen Revolver, mit dem man auch nichts mehr anfangen kann.

Wer allzu lange über diese Bildideen nachsinnt, dürfte bald die Lust verlieren. Das Theater des Gerald Thomas spiegelt die Unsicherheiten einer rücksichtslos beschleunigten Welt, aber es verweigert jegliche Deutungen und Interpretationen. Das mag eine Schwäche sein, doch die Überfülle an szenischen Einfällen kompensiert den Sinnverlust. Rolf Suhl

„The Flash and Crash Days“ sind noch einmal am 1. und 2.9. in der Kölner Musikhochschule zu sehen.

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