Der Wille entscheidet

■ „Streng und nett“ — über die Bundestrainerin für Rhythmische Sportgymnastik

„Ihr habt doch ein Ziel vor Augen. Wer sich hängen läßt, braucht für jeden Schritt nach oben länger. Ihr habt doch ein Ziel.“ Ja, die fünf Mädchen haben eins, und nach dieser kurzen Predigt geht jedes an seine Arbeit. Sie wollen nach oben, sie wollen Spitzen-Gymnastinnen werden, und sie haben seit drei Jahren eine Frau, die sie dahinführen will: Ihre Trainerin Carmen Weber (35).

Bremen, Bundesstützpunkt Rhythmische Sportgymnastik. Eine nagelneue Halle neben dem Sportturm der Universität: Zwei Gymnastikfelder, ein Ballettsaal. Es riecht noch etwas nach Industriekleber. Fünf Mädchen aus den Spitzenkadern des Deutschen Turner-Bundes trainieren hier mit Reifen, Seilchen, Keulen, Band oder Ball. Jeden Wochentag nachmittags und sonnabends.

„Leistungssport hat mich positiv geprägt, diszipliniert“, erzählt Carmen Weber. Sie selbst hat sportlich das Optimale aus sich herausgeholt. Aufgewachsen ist sie in in der DDR, mit 12 Jahren kam sie zur Rhythmischen Sportgymnastik. „Wir mußten damals viel improvisieren“, erinnert sie sich: Ballettunterricht im Treppenhaus, wegen der Geländer, und eine einfache Turnhalle für das Training. An der Kinder- und Jugendsportschule Leipzig, einem Internat, steckte die Rhythmische Sportgymnastik noch in den Kinderschuhen.

Ihre damalige Trainerin Ute Polster-Lehmann hält sie in guter Erinnerung. „Sie war streng und nett, und sie war für mich lange ein Vorbild.“ 1973, mit 16 Jahren, gelingt Carmen Weber ihr größter sportlicher Erfolg: Bei der Gruppen-Weltmeisterschaft in Rotterdam wird sie mit der Mannschaft der DDR dritte. „Zwei Jahre später haben wir die WM in Spanien wegen des faschistischen Regimes Francos boykottiert“, erzählt sie. Eine politische Entscheidung, an der sie lange zu knabbern hatte. „Es ist als Leistungssportlerin unheimlich schwer, nur alle zwei Jahre einen Wettkampf zu haben und dann verzichten zu müssen.“ Zwei Jahre später laboriert sie an einer Verletzung, wieder fällt die WM für sie aus. „Danach habe ich aufgehört, weil ich wußte, daß ich meinen sportlichen Höhepunkt überschritten hatte.“ Carmen Weber war zu diesem Zeitpunkt zwanzig Jahre alt.

Jetzt ist sie selbst Trainerin. Studiert hat sie an der Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig, Sie ging alle Sportarten durch, aber ihr Schwerpunkt blieb die Rhythmische Sportgymnastik („Beim Schwimmen bin ich durchgefallen“, gesteht sie). 1982, mit Diplom und Trainerschein in der Tasche, beginnt ihre Laufbahn als Trainerin bei Chemie Halle. Drei Jahre später schon kündigt sie wieder, weil sie sich zu sehr beobachtet fühlt. „Die Mädchen dort konnten nicht ihre Persönlichkeit entwickeln, immer war jemand dort, der sie ideologisch formen wollte.“

Nach Bremen kommt sie, weil ihr der Deutsche Turner-Bund eine Trainerstelle anbietet. Im November 1989 stellt sie noch ein Ausreisevisum, „damit wenigstens die Kinder noch zu den Verwandten zurück können“. Sie selbst geht mit ihrem Mann Rene und wählt von fünf Bundesstützpunkten der Rhythmischen Sportgymnastik Bremen aus.

„Schrittsprung — Schrittsprung - Rolle — Pose!“ Carmen Webers Kommandos lassen keinen Widerspruch zu. Katharina quält sich gerade mit ihrer Keulenübung, schon dreimal hat sie ihr ganzes Program durchgemacht, immer gegen Ende wird sie schwächer. „Komm Herzchen, noch einmal, aber diesmal mit der ganzen Kraft bis zum Ende“, muntert Carmen Weber sie auf. Sekunden später fangen sich zwei andere Mädchen einen gesalzenen Anschiß ein. Die Motivationstonleiter beherrscht Carmen Weber rauf und runter.

„Fingerspitzengefühl“ braucht sie als Trainerin, sie will Partnerin sein. Gleichzeitig gesteht sie: „Eine strenge Linie muß schon sein.“ Die Mädchen sollen durch die Gymnastik zu ihrer eigenen Persönlichkeit finden, nur so überzeugen sie im Wettkampf. Das beginnt mit der richtigen Musik, die zum „Typ“ passen muß, und endet bei den Übungsteilen.

Wer nach oben will, kann es schaffen. So lautet das Credo von Carmen Weber. Nur der eigene Wille entscheidet, ob man „fünfte bei einer Deutschen Meisterschaft wird oder Weltmeisterin — Talent vorausgesetzt. Immer fünfte bleiben, das ist nichts für mich.“ Als Gymnastin nicht, und als Trainerin auch nicht. Barfuß oder Lackschuh, diesen Vergleich stellt sie selbst lachend an, und dann wird sie wieder ernst: „Ich selbst werde danach gemessen, wie gut die Mädchen werden, und die sind nicht hier, um fünfte zu werden.“ Markus Daschner