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Täglich Tratsch in der „Tagesschau“

■ Die Nachrichtensendung der ARD funktioniert wie ein simpler Satzbaukasten

Ulrich Schmitz sieht und hört keine „Tagesschau“ mehr. Er kann deren Wortbeiträge nach Belieben mittels eines Computersystems selbst produzieren. Das genügt ihm. Jahrelang hat er sich mit der täglichen Hauptsendung beschäftigt, die Ergebnisse in einem Buch zusammengefaßt. Hin und wieder hält er Vorträge zum Thema, zuletzt auf Einladung der Gesellschaft für deutsche Sprache in Berlin. Graumeliert und unscheinbar steht er vor spärlich gefüllten rotgepolsterten Stuhlreihen und müht sich, innerhalb einer Stunde den Kern seines Werkes mitzuteilen.

Die „Tagesschau“ funktioniert wie ein Setzkasten, sagt Schmitz. Die Redakteure arbeiten mit einer überschaubaren Anzahl von Wörtern und festgefügten Satzgruppen, die der Linguist in 38 „nachrichtentypische Züge“, nach Themen geordnete Schubladen, einsortiert hat. Sämtliche „Tagesschau“-Texte können aus diesen grammatikalisch einfachen Stäzen zusammengestellt werden. Die Phrasen innerhalb einer Nachricht können beliebig verschoben werden, ohne daß ihre Aussage verwirrt; kaum ein Satz bezieht sich auf den vorhergehenden. Nicht nur innerhalb eines Textes sind Sätze austauschbar, sondern selbst über die Distanz mehrerer Jahre. Das wird sich auch nicht verändern, so Schmitz. Herr X. wird auch in zwanzig Jahren das Gespräch am Rande der Konferenz von Z. nutzen, um mit Frau Y. seine Meinung über bilaterale Fragen auszutauschen. Lediglich das Register der Eigennamen muß immerfort vervollständigt werden. Mittels dieser Bauklötze ist ein Computer fähig, die täglichen Nachrichten zu produzieren.

Der Duisburger Sprachforscher bezeichnet das semantische Schubkästensystem als „geschlossene Enzyklopädie“. Mit den verfügbaren Stereotypen wird Wirklichkeit „beschrieben“, ein Weltbild produziert, das ebenso versteinert wie austauschbar ist. Hier spielen Institutionen die Hauptrolle, die Subjekte — sprich Menschen — sind eingebaute Variablen. Im übrigen: Das Gros der Politikerreden ist ähnlich zusammengebastelt. Es ist unmöglich, auf diese Weise Zusammenhänge darzustellen. Aber sie lassen sich hervorragend suggerieren. Wiederholung heißt das Zauberwort. An mehreren Tagen die gleiche Nachricht mit wechselnden Textpartikeln aus unterschiedlichen Schubladen oder aber die gleiche Nachricht, die gleichen Sätze — nur in unterschiedlicher Reihenfolge. Wohlartikuliert vorgetragen schaffen die Texte das Gefühl, informiert zu sein. Dabei ist offenbar ziemlich gleichgültig, was gesagt wird: In einer Studie hat Ulrich Schmitz „Tagesschau“-Konsumenten nach der Sendung zu deren Inhalt befragt. Das Ergebnis war mager, kaum jemand konnte die Informationen wiedergeben. Blaß auch die Erinnerung derer, die sich vor den Fernseher setzten und wußten, daß sie hinterher danach gefragt werden. Das Ergebnis besserte sich nicht einmal dann, wenn die Probanden die Texte der Sendung nachlesen konnten. Ob Sprecher oder Sprecherin, ob Berghoff, Veigel oder Wieben, sie lächeln gleichbleibend und konzentriert, den Blick gesenkt oder stramm geradeaus: Wir melden uns wieder. Darüber herrscht Einigkeit auf beiden Seiten der Mattscheibe, die Einschaltquote liegt seit Jahrzehnten bei 50 Prozent. Die Hauptausgabe der „Tagesschau“ ist ein Ritus, der mittels standardisierter Phrasen ein Gefühl von Vertrautheit verbreitet. Hierein fügt sich Schmitz' These der „immateriellen Concierge“: Was im Pariser Hausflur der Tratsch, ist in der „Tagesschau“ die Information vom Weltgeschehen.

Schmitz hält die tägliche Sendung für einen postmodernen Mythos: Statt der großen Erzählung mit gleichem Inhalt werden lauter kleine Teile wieder und wieder vorgetragen. Dabei ist es egal, wer die Sätze geschrieben hat — Autoren spielen keine Rolle. Es darf auch ein Computer sein. Friederike Freier

Die Studie von Ulrich Schmitz „Postmoderne Concierge: Die Tagesschau.“ ist im Westdeutschen Verlag Opladen erschienen, kostet 54 Mark und ist vergriffen.

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