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KOMMENTAREWem nutzt's?

■ Zur Haftentscheidung der Berliner Schwurgerichtskammer in Sachen Honecker

Wie immer ist die Wortwahl verräterisch. In ihrer Entscheidung über die Fortdauer der Haft für Erich Honecker ist die Berliner Schwurgerichtskammer peinlich bemüht, das schlichte Wort „Leberkrebs“ zu vermeiden. Der ehemalige Staatsratsvorsitzende leide vielmehr an einem „wahrscheinlich bösartigen Lebergeschwulst“. Die der Sache nach eindeutige Diagnose im Gutachten des forensischen Mediziners Schneider, wonach Honecker einen Prozeß mehrjähriger Dauer nicht werde durchstehen können, war für das Gericht irrelevant. Erst muß das Verfahrenshindernis, sprich die Verhandlungsunfähigkeit, eintreten, dann werde man weitersehen. Es lebe die Pflicht des Staates zur wirksamen Rechtspflege!

Von ähnlicher Qualität ist die Begründung dafür, daß weiterhin Fluchtgefahr bestehe, mithin der Haftbefehl in Kraft bleiben müsse. Als Honecker töricht genug war, Gorbatschows Einladung in die Sowjetunion — Transport und Logis frei — anzunehmen, lag bekanntlich kein Haftbefehl gegen ihn vor. Aber das Reiseunternehmen mit unglücklichem Ausgang gebe eben doch einen Hinweis auf die „internationalen Verbindungen“ des Angeschuldigten, meint die Kammer. Sollte dem hohen Gericht entgangen sein, daß der damalige Gastgeber Gorbatschow nicht mehr im Kreml weilt und daß die Fluchthelfer, allen voran General Jasow, jetzt das Schicksal ihres deutschen Gesinnungsgenossen teilen? Wer also sollte Honecker dem Zugriff der deutschen Justiz entziehen? Einzelkämpfer der Stasi? Ein Stoßtrupp aus Pjönjang? Ein dankbares „Kommando Erich Honecker“ der RAF?

Übergehen wir großzügig den Vergleich zur Praxis der Verfahrenseinstellung gegenüber „mutmaßlichen“ Naziverbrechern in den 50er Jahren. Fragen wir lieber, wem die Fortdauer der Haft und wem ein Verfahren nutzt, in dem der Umfang der Tataufklärung sich an der Ausbreitung der Krebsmetastasen mißt. Dem Gerechtigkeitsgefühl der Ossis? Die sähen Honecker lieber als Rentner in einem feuchten Zimmer. Der Rechtssicherheit? Sie wird in einem Prozeß mit derart unsicheren Rechtsgrundlagen eher Schaden nehmen. Der Vergangenheitsbewältigung? Da ist bei Honecker nichts zu holen. Der Bundesregierung? Die kann längst nicht mehr darauf hoffen, die gegenwärtige Wut der Ostbewohner auf ihren ehemaligen Zwingherrn zu fixieren. Nicht einmal Honecker selbst würde der Prozeß etwas nutzen, denn zur Selbststilisierung als deutscher Revolutionär ist der versteinerte Bürokrat nicht in der Lage. Das alles liegt flach auf der Hand, aber vulgäre Nützlichkeitserwägungen sind der deutschen Justiz nun mal fremd. Fiat justitia. Christian Semler

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