: Ein Alptraum an Nicaraguas Pazifikküste
Das schwere Seebeben mit anschließender Flutwelle ist nicht die erste Katastrophe des Landes/ Spontane Solidarität und Hilfe ■ Aus Managua Ralf Leonhard
Für die Bewohner der nicaraguanischen Pazifikküste war es die längste Nacht ihres Lebens. Ein gewaltiges Seebeben hatte Dienstag kurz nach Einbruch der Dunkelheit eine bis zehn Meter hohe Flutwelle ausgelöst, die alle Küstendörfer binnen weniger Minuten überflutete. Die herabstürzenden Wassermassen zerschmetterten Hunderte der fragilen Holzhäuser, rissen Strommasten um und kehrten das Unterste zuoberst.
Die Strände von Masachapa, Poneloya, Casares, San Juan del Sur, Marsella, El Transito und vielen weiteren Dörfern am nicaraguanischen Pazifik glichen den Schauplätzen von Bombenangriffen, als Mittwoch die Sonne aufging: ein Durcheinander von Brettern, umgekippten Booten, Schuhen, Hausrat und selbst ins Meer gespülten Autos. Rund hundert Menschen, mehrheitlich Kinder, waren dem unheimlichen Naturphänomen zum Opfer gefallen.
Innerhalb weniger Sekunden spielten sich unbeschreibliche Tragödien ab: Frau Mercedes Novoa in Marsella mußte drei ihrer sechs Kinder begraben, ein Großvater in San Juan del Sur hielt seinen kleinen Enkel fest an der Hand, konnte aber dessen Tod unter der Flutwelle nicht verhindern. Am Strand von Chacocente starb einer der Soldaten, die seit Wochen die Schildkrötennester gegen skrupellose Eierhändler verteidigen. Eine finnische Touristin wurde regelrecht skalpiert, ihre Freundin fand den Tod. Die als vermißt gemeldeten deutschen Urlauber Reinhard Boettger und Isabel Wiedehage sind verletzt, aber wohlauf.
Die Mittwoch abend von der Regierung bekanntgegebene Bilanz von 95 Toten, 150 Verletzten und 50 Vermißten muß als provisorisch betrachtet werden, da noch immer nicht aus allen Ortschaften zuverlässige Daten vorliegen. Mindestens 300 Häuser wurden zerstört.
Das Epizentrum des Bebens wurde etwa 60 Kilometer vor der Küste von Masachapa geortet. Mit einer Stärke von 7,2 auf der Richterskala war es das heftigste Beben in Nicaragua, seit vor 20 Jahren die Hauptstadt Managua durch tektonische Stöße dem Erdboden gleichgemacht wurde. Seither ist Nicaragua von Hochwassern, Dürrekatastrophen, einem Wirbelsturm, einem Vulkanausbruch und einer Choleraepidemie heimgesucht worden. Ganz abgesehen von den von Menschen gemachten Katastrophen wie Diktatur, Bürgerkrieg und Wirtschaftsboykott. Vielleicht ist es dieser leidvollen Geschichte zu danken, daß sich die sofortige und spontane Solidarität der Bürger einstellte. Bestattungsunternehmen stifteten Särge, Taxifahrer fanden sich ein, um Angehörige von Küstenbewohnern gratis in die Katastrophengebiete zu bringen, Kaufleute spendeten tonnenweise Kleidung und Lebensmittel, und Tausende Privatleute folgten den Aufrufen des Roten Kreuzes und mehrerer Radiosender und leisteten ihren Beitrag mit einem Hemd, einer Decke, ein paar Konservendosen oder ein bißchen Bargeld.
Aus Honduras kam die Freiwillige Feuerwehr zu den Bergungsarbeiten. Mexiko, Costa Rica und Spanien schickten Hilfsgüter. Von US- Präsident Bush kam ein Kondolenztelegramm an Violeta Chamorro und Soforthilfe von 25.000 Dollar. Präsidentensprecher Lacayo nutzte ein Interview mit CNN zu einem Appell an den Kongreß in Washington: Es sei jetzt an der Zeit, politische Querelen beiseite zu lassen und ein seit drei Monaten suspendiertes Hilfspaket von 100 Millionen Dollar endlich auszuzahlen.
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