: Steh-Blues am Rande des Abgrunds
■ Das Ritual der Hamburger Haushaltsberatungen wirft ein bezeichnendes Licht auf die auswegslose Lage, in der sich konventionelle Politik heute befindet. Der hilflose Umgang mit einem 16,7 Milliarden-Schatz
wirft ein bezeichnendes Licht auf die ausweglose Lage, in der sich konventionelle Politik heute befindet. Der hilflose Umgang mit einem 16,7-Milliarden-Schatz verdeutlicht einmal mehr, daß eine radikale Reform des Staatsapparates not tut.
Tatort Rathaus, Mittwoch, 2. September 1992. Die Menschen im vollen Plenarsaal, auf den dicht besetzten Pressebänken und in den satt gefüllten Zuschauerlogen genießen ein Ohnsorg-Stück der feinsten Art. Köstlich, wie Hauptdarsteller Eugen Wagner hilflos zappelt, mit den Armen rudert und sich immer tiefer in den Strudel des Saga-Sumpfes zieht. Das Drehbuch ist lecker, ja geradezu genial: Eugen Wagner verteidigt billige Mieten, Mieterselbsthilfe und Mieterschutz und weiß doch gleichzeitig, daß dies der Strick ist, an dem er heute politisch aufgeknüpft wird. Einen Sozi mit Billigmieten abzuurteilen, der alle Skandale über Geldverschleuderei und Betonwahn bislang schadlos überstand — das hat Klasse.
Die Bürgerschaft, an diesem Abend mal echte Volksvertreterin, fährt schwerstes Geschütz auf. Ein Untersuchungsausschuß muß her, um zu klären, ob ein Handelslehrer mit einer Kaltmiete von 7,35 Mark pro Quadratmeter in die Kategorie der Hehler, die Saga-Bosse in jene von Wohnungsdieben gehören. Die Medien sind beglückt. Endlich liefert das Rathaus Geschichten aus dem prallen Leben: Pausbäckchen Wagner ziert denn tags darauf auch alle Lokalgazetten, die Saga-Soap- Opera ist Hamburger Titelthema.
Die lästige „Finanz-Arie“ stellt die Weichen
Mittwoch abend, 18.14 Uhr, der Saga-Vorhang ist kaum gefallen, breitet sich wieder trübste Rathaus-Tristesse aus. „Oh Gott“, stöhnt Abendblatt-Reporter Veit Ruppersberg, „jetzt kommt wieder diese Finanz-Arie.“ In der Tat: Jetzt geht es nicht mehr um 7,35, sondern um 16688000000,00 DM. Angesagt ist nicht ein Untersuchungsausschuß, sondern jahrzehntelang wiederholtes Geschwätz. Es geht um den Unterschied zwischen symbolischer Politik, der populären Saga-Saga und politischer Wirklichkeit, der tragisch verkannten Haushaltsoper. Kurz: Es geht nicht um Peanuts, sondern ums Eingemachte. Der 16,7 Milliarden Mark schwere Etatentwurf 1993 ist Grundlage der gesamten Stadtpolitik eines Jahres und stellt darüber hinaus Weichen für die Zukunft, von der alle wissen, daß sie ungewiß ist wie seit Jahrzehnten nicht.
Wenn es wichtig wird, ist zuallererst Routine angesagt. Die Journalisten, immer mit ein bißchen Bammel vor sieben Kilo eng bedrucktem Papier, jonglieren alljährlich mit den vier Keulen Sparen, Schulden, Spendierhosen, Steuerschraube. Das vereinfacht vieles. Auch die LeserInnen sind erleichtert. Jedes Jahr wieder: Die Regierung hat solide kalkuliert, auf soziale Ausgewogenheit geachtet, beachtliche Schwerpunkte in Umweltschutz, Wirtschaft und Verkehr gesetzt und mit adlerscharfem Blick für die Zukunftsprobleme der Stadt gehandelt. Die Opposition dagegen hat mal wieder sinnlose Ausgaben, überzogene Gebührenanhebungen und falsche Schwerpunkte ausgemacht.
Am Donnerstagmorgen beschäftigen sich die Hamburger Gazetten brav mit dem Haushaltsritual — wie jedes Jahr. Und hatten sie nicht alle recht, die politischen Akteure an jenem Mittwochabend im Rathaus? Finanzsenator Wolfgang Curilla (SPD), voll des Selbstlobs, hat tatsächlich zäh gefightet, recht ordentlich gearbeitet, kann mit diesem Haushalt in der Konkurrenz zu seinen Vorgängern durchaus bestehen. Natürlich hat auch CDU-Sprecher Rolf Mairose recht, wenn er feststellt, der Hamburger Haushalt sei unsolide, verdränge die drohenden Risiken. Ebenso im Recht ist auch Ex-Wirtschaftssenator Wilhelm Rahlfs (FDP), der den Haushalt als „ein Trauerspiel“ bezeichnet. Sozusagen standesgemäß im Recht sind die Grünen. Ihre haushaltspolitische Sprecherin Ulla Bussek hatte denn auch keine Mühe, ihren rundum wahren Standardsatz auch an diesem Abend unterzubringen: „Hamburg wächst, die sozialen und ökologischen Probleme wachsen, und ebenso wachsen die Ratlosigkeit und die Entscheidungsunfähigkeit des Senats.“
Kleiner Schönheitsfehler all dieser Wahrheiten: Die Redner sind fast beliebig austauschbar. Wäre Curilla Oppositionssprecher, hätte er fraglos und mit großem Nachdruck die Verantwortungslosigkeit und Perspektivlosigkeit eben dieses Haushaltes angeprangert. Finanzsenator Mairose dagegen hätte sich des Augemaßes gerühmt, ans Wohl Hamburgs und die Not des Osten gleichermaßen gedacht zu haben. Sein Koalitionspartner Rahlfs hätte die Verantwortung für Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft herausgestellt und betont, der Hamburger Boom sei nicht zuletzt der klugen Haushaltspolitik des CDU/FDP-Senats zu verdanken. Wäre dagegen Ulla Bussek Koalitionspartnerin von Curilla, hätte sie schmerzliche Zumutungen eingeräumt, aber gleichzeitig betont, die Grünen hätten für unverkennbare ökologische, soziale und frauenpolitische Schwerpunkte gesorgt.
Kein Regierungswechsel führt zu Kurskorrekturen
Kurz: Keine der vier Rathausparteien würde in Praxis die Haushalts-Ursuppe neu kochen. Allenfalls ein Gewürz wegnehmen, ein anderes hinzufügen. Kaum merkbar. Die Veränderungen, die das Parlament dem Haushalt in den letzten Jahren antat, bewegten sich im Promillebereich. Dabei wissen alle, daß das ganze Rezept nicht stimmt, die Suppe völlig neu gekocht werden müßte. In anderen deutschen Stadtparlamenten ist es ebenso: Ob rot-grün in München und Frankfurt, die CDU in Stuttgart, die Ampel in Bremen oder die große Koalition in Berlin — Regierungswechsel führten zu Akzentverschiebungen, gewiß, aber nie zu grundsätzlichen Kurskorrekturen.
Die nüchternen Fakten der Boom-Town Hamburg zeigen aber, daß es ohne eine Revolution der Haushaltspolitik auf Dauer keine vernünftige Stadtpolitik geben wird. Dies hat sogar den Wandsbeker Rechtsausleger, die SPD-Eminenz Gerd Gustav Weiland, Chef des Haushaltsausschusses, dazu gebracht, heftig über die Konzeptlosigkeit der Hamburger Finanzpolitik zu schimpfen und eine radikale Wende einzuklagen.
Die trockenen Fakten: Vor dem Hamburg-Boom befand sich die Stadtkasse in einer schier ausweglosen Lage. Finanzlöcher von mehr als einer Milliarde pro Jahr drohten zusätzlich zu jenen 1,5 bis 2 Milliarden, die sich die Stadt sowieso alljährlich für ihre Investitionen pumpt. Allein die Steuerschwemme von jährlich mehr als einer Milliarde Mark zusätzlich, hervorgerufen vom Konsumrausch der Ossis, von dem Hamburg außerordentlich profitierte, hat die Strukturkrise vertagt. Die SPD atmete auf. Noch einmal davon gekommen. Deshalb weiter wie bisher. Dort ein bißchen draufgesattelt, hier ein bißchen hinzugefügt. Haushaltspolitik ist extrem konservativ. Sie schreibt den Ist-Stand früherer Jahre seelenruhig fort, dreht das Steuerrad allenfalls um Millimeter.
So hat der Boom, dessen Ende jetzt kurz bevor steht, Hamburgs Lage kaum gebessert. Die städtische Schuldenlast von jetzt 24 Milliarden Mark beschert den Banken jährliche Zinsprofite von 1,5 Milliarden. Fast jede zehnte Mark geht so in die Banktresore. Da Hamburg zur Tilgung alter Schulden wieder neue macht und seine Investitionen von gut 1,5 Milliarden pro Jahr ebenfalls von den Banken bezahlen läßt, darf sich das Bankkapital auf einen stetig anschwellenden und völlig risikofreien Profit freuen. Die Sozialhilfe, inzwischen mehr als zwei Milliarden Mark, klettert ebenfalls fröhlich weiter. Wo die Armut wächst, weil die Stadt sie nicht in den Griff bekommt, muß eben auch das soziale Bügeleisen mehr Dampf bekommen. Verkehrschaos, unzulängliche Kinderbetreuung und Wohnungsnot erwzingen ebenfalls steigende Ausgaben. Kurz: Die schon jetzt absehbare Ausgabedynamik der nächsten Jahre wird Hamburg blitzschnell ins finanzielle Chaos stürzen, wenn die Steuerflut abebbt. Genau dies erwarten aber die Steuerschätzer.
Hamburg hat da nicht an allem schuld. Da ist zum Beispiel das Beamtenrecht ein schlimmer Hemmschuh. Eines der bösartigsten Grundübel aber ist die deutsche Finanzverfassung: Sie befindet sich derzeit in einer totalen Schieflage. Länder und Gemeinden hängen völlig von Entscheidungen des Bundes ab, haben praktisch keinen eigenen Einnahmespielraum. Einnahmeverantwortung und Ausgabenverantwortung fallen kraß auseinander. Das gilt vom Kindergartenplatz (wg. Paragraph-218-Entscheidung des Bundestages) über den Nahverkehr (künftig allein Sache von Ländern und Gemeinden, die dafür aber keine eigenen Finanzierungsquellen haben) bis zur Unternehmensbesteuerung. Während alle Experten sich einig sind, daß Probleme künftig viel stärker vor Ort gelöst werden müssen, werden die Geldströme immer stärker zentralisiert — nach Bonn und Brüssel.
Obwohl hier der Feind in Bonn sitzt, handelt Hamburg nicht. Die Stadt müßte endlich im Konzert der Bundesländer und auf dem Deutschen Städtetag in vorderster Linie derjenigen stehen, die eine neue deutsche Finanzverfassung einklagen. Sie dürften nicht nur klagen, sie müßten auch ein wegweisendes Konzept vorlegen, konkrete Forderungen formulieren.
Das zweite Grundübel aber hat die Hamburger Politik zu verantworten. Die Dramatik liegt nämlich nur zum geringsten Teil in dem scheinbar unvermeidbaren Auseinanderklaffen von Einnahmen und Ausgaben. Das eigentliche Drama: Selbst mit 16, 17 oder 18 Milliarden Mark und über 100000 Beschäftigten im Öffentlichen Dienst gelingt es der Stadt nicht, die erforderlichen Sozial-, Kultur-, Wirtschafts-, Infrastruktur- und Umweltstandards herbeizuzaubern. Hamburg müßte seine gesamten Staatsausgaben grundsätzlich inFrage stellen. Nicht einfach immer nur Planansätze kürzen, aufstocken oder fortschreiben, sondern sich die Frage stellen: Kann man mit 16 Milliarden Mark pro Jahr eine Stadtdemokratie finanzieren? Die Antwort fällt leicht: Natürlich. Auch mit 15, 14, 13 oder 12 Milliarden Mark. Andererseits: Natürlich geht das nicht sofort. Auch eine radikale Reform müßte sich am Ist-Stand, an Personalapparat, Beamtenrecht und vorhandenen Institutionen orientieren. Aber: Niemand hindert die Stadtgewaltigen daran, das Leitbild einer effizienten und besseren Struktur der öffentlichen Leistungen zu entwickeln und die Stadt in einem vieljährigen Weg dahin zu bringen.
In Hamburgs Behörden gibt es zu viele Stellen
Das ist weit weniger utopisch, als es sich anhört. Über Verfassungs-, Verwaltungs- und Parlamentsreform wird ja vor allem deswegen geredet, weil der politische Apparat im Innersten weiß, daß es so nicht weiter geht. Ein starker und guter Staat wird ja nicht an der Zahl seiner A 14-Stellen gemessen oder am Ausmaß seines öffentlichen Versorgungsfilzes. In der Verwaltung weiß man selbst schon genau, wo anzusetzen wäre: In der Wirtschaftsbehörde und der Baubehörde sind einige tausend Stellen überflüssig. Sie könnten gestrichen, oder für unerledigte Stadtaufgaben eingesetzt werden. Der Moloch der Sozialbehörde ließe sich ebenfalls entschlacken, wenn eine Vielzahl von Aufgaben aus dem Staatsapparat ausgegliedert würden. Natürlich hat auch Immobilienspezi Robert Vogel (FDP) recht, wenn er die städtische Saga als aufgebläht und ineffizient bezeichnet. Das Problem ist dabei nicht die 7,35 DM/qm-Miete eines Handelslehrers, sondern das chaotische Reparatur- und Instandhaltungswesen, das miese Management des gewaltigen Wohnungsbesitzes.
Wenn man den Gründen des heute so gravierend verspürten Versagens der Politik nachspürt, darf man nicht bei Doppelmoral der Bevölkerung, der Verkommenheit der politischen Kaste, Parteienfilz und Bürokratiefrust stehenbleiben. Die Art und Weise, wie die öffentlichen Finanzen gemanagt werden, gehört dazu. Im Umgang mit dem öffentlichen Geld spiegelt sich die Hilflosigkeit der Politik, die ihr gestellten Aufgaben zu lösen. Dabei ist die Aufregung über Diäten etc. zwar kennzeichnend, trifft aber den Kern des Problems nicht. Neue Heimat und Coop sind ja auch nicht daran zugrunde gegangen, daß sich ihre Vorstände zu dick bereichert haben, sondern daß sie eine völlig falsche Geschäftspolitik betrieben. Die Unfähigkeit, erkannte Probleme mit durchaus vorhandenen Lösungsansätzen anzupacken, dies ist wohl das Kernübel von Politik.
Der Haushalt spielt dabei eine ganz zentrale Rolle. Er ist der Schlüssel zu einer überfälligen radikalen Reform des Staatsapparates. Diese ist freilich nicht in Sicht. Das Festkleben am Status quo, die strikte Weigerung, eingefahrene Mechanismen in Frage zu stellen, sie sind offenkundig das Grundprinzip heutiger Politik. Die Grünen, traurig genug, haben sich dem schon überraschend weit angeglichen. Florian Marten
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