■ ARTUR, BERLINOID
: Erziehung ist zwecklos: Die machen sowieso alles nach

Mit Arturs Brief in der Hand lächelte Zora die anderen an und berichtete bekümmert, er habe Berlin völlig aufgebracht verlassen. Nicht für immer, sondern nur, um auf Einladung der in einschlägigen Kreisen bekannten Lyrikerin Rebecca Goldblum an einem Treffen in der Schweiz teilzunehmen.

Den letzten Anstoß zu diesem Entschluß hätten die Braunschweiger Bereitschaftspolizisten geliefert, die hätten den Bus nach Rostock mordsmäßig gefilzt, stundenlang aufgehalten und vollkommen hilflos und total neben der Kappe seinen Sticker »Lebe wild und gefährlich« konfiziert.

Wütend habe er kurz vor der Schweizreise noch diesen immer wieder gern gehörten blöden Witz erzählt, es sei internationale Polizeigepflogenheit, einen, zwei oder drei Sterne auf Schulterklappen zu verleihen, je nachdem, ob der Kandidat nun mit Messer und Gabel essen, lesen oder gar seinen Namen schreiben könne.

Und ich, erzählte Zora weiter, ich war ganz begeistert von der Idee und habe noch vorgeschlagen, diesen Brauch in Form von Kupferblech auf PolitikerInnen auszudehnen. Aber Artur wollte ja unbedingt losfahren!

Er schreibt weiter, wie sehr er sich gewundert hat über die Feinnervigkeit der Schweizer, Fremden anzusehen, wie's innen aussieht: Eine Kellnerin habe ihn teilnahmsvoll angeschmunzelt und nachgefragt: »Sind Sie bedient?«

Er, Artur, dem dieser Ausdruck nur aus dem Norddeutschen geläufig ist, wenn man von irgendwas wirklich die Schnauze gestrichen voll hat, dann ist man bedient, und zwar restlos, er habe sich sehr gefreut über soviel selbstlose Zuwendung. Und auf Rebecca Goldblums Workshop gibt es drei Arbeitsgruppen: »Fremde/Inder/Nacht«. Tagsüber sammelten sie Zitate und des Abends hätten sie Flüchtlingsgespräche und fänden Trost und Kraft in der Literatur, die Rebecca aufs Trefflichste vorzutragen verstünde.

Zu Rostock und überall, zu diesen marodierenden und zündelnd mordenden Lumpenproleten und zu Arturs grenzenloser Wut hat sie einen Satz von Arno Schmidt gefunden, daß nämlich sich die Eltern nicht wundern sollten, wenn man sie an ihren Früchtchen erkennt. Ein weiterer Ausländer habe Bruchstücke aus Hölderlins Hyperion zitiert: »...so kam ich unter die Deutschen, Barbaren von Alters her... dumpf und harmonielos, wie die Scherben eines weggeworfenen Gefäßes... Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen...«

Er selbst aber, schreibt Artur weiter in seinem Brief, habe es angesichts der deutschen Zustände doch lieber mit der zeitgenössischen Lyrik gehalten, mit H.M. Enzensbergers Gedicht »an einen mann in der trambahn« und mit Hans Wollschläger, sinngemäß, gebrüllt: »Dieses Ganze und Große aus Hunz und Kinz, deren Gesichter als Enddarmausgänge hinreichend beschrieben sind und denen man nichts anderes mehr ansieht, als daß sie pausenlos verdauen...« Clemens Walter