DAS ENDE DES ITALO-TOURISMUS

■ Nach ständigem Lamento über unlautere Machenschaften aus dem Ausland beginnen die Italiener endlich auch sich selbst nach den Ursachen des drastischen Rückgangs im Fremdenverkehr zu fragen

Nach ständigem Lamento über unlautere Machenschaften aus dem Ausland beginnen die Italiener endlich auch sich selbst nach den Ursachen des drastischen Rückgangs im Fremdenverkehr zu fragen

VONWERNERRAITH

Margherita Boniver findet in der Übergabe-Mappe einen Zettel mit dem Satz: „Das Desaster mit den Geschäftsferien während der Hochsaison abstellen.“ Boniver hat gerade im italienischen Ministerium für Einwanderungsfragen in das Ressort „Schauspiel, Sport und Tourismus“ gewechselt. Eine ähnliche Notiz ist auch beim neuen Minister für Umwelt- und Kulturgüter gelandet: „Museenschließungen im Sommer vermeiden!“

Diese Anmerkungen charakterisieren eine der Ursachen, die la Repubblica den „grauenhaften, doch nicht unverdienten Senkrechtsturz des italienischen Tourismus“ nennt: Die Fremdenverkehrsbranche hat mehr als ein Drittel weniger Übernachtungen als im Vorjahr verbucht, die Restaurants sprechen von Umsatzeinbußen bis zu 50 Prozent, Hunderte von Andenken-, Tand- und Kleidergeschäften in den Bade- und Sightseeing-Hochburgen müssen Konkurs anmelden. Vier von zehn Bade-Etablissements, von der Strandbar bis zur Surfschule, erklären, nächstes Jahr „wohl kaum mehr“ weitermachen zu können. Das ist das Ergebnis einer vorläufigen Umfrage des Gastronomie-Gewerbes in der Emilia Romagna, zu der die berühmtesten Italo-Strände zwischen Ravenna und Cattolica zählen.

Mißgünstige Nachbarn oder höhere Gewalt

Der Tourismus-Rückgang trifft die Branche in diesem Jahr noch schlimmer, denn 1991 wurden bereits zehn Prozent gegenüber 1990 eingebüßt. Wären nicht massenhaft Touristen aus Jugoslawien wegen des Bürgerkrieges geflohen, hätte es noch schlechter ausgesehen. Das Jahr 1990 hat trotz der Fußball-Weltmeisterschaft in Italien ein Minus von 15 Prozent eingebracht. Das letzte einträgliche Jahr war 1988.

Die Ursachen für den Rückgang des Fremdenverkehrs haben die Italiener jährlich mit unterschiedlichen Argumenten begründet. Einig sind sich alle darin gewesen, daß die Schuld niemals im eigenen Land zu suchen ist, sondern bei mißgünstigen Nachbarn oder widriger höherer Gewalt: 1988 wurde die Adria erstmals von einer Algenplage heimgesucht, die sich 1989 dramatisch wiederholte. Verursacher waren natürlich nicht die überdüngten Felder in der Po-Ebene, sondern böse Winde aus dem Süden, etwa aus Griechenland oder gar vom Schwarzen Meer. 1990 mißgönnten deutsche und andere mächtige Reiseunternehmer den Italienern die Weltmeisterschaft und leiteten angeblich ihre Touristen boshaft in die Türkei und nach Tunesien um. Im vorigen Jahr waren es dann schließlich ökonomische Gründe: Die Lira hielt sich auf den internationalen Wechselmärkten so gut, daß die Billigreisenden aus Japan, den USA und auch Deutschland lieber in inflationsträchtige, aber umtauschgünstige Gefilde reisten. In diesem Jahr nützt auch ein solches Argument nichts mehr — die Lira steht gegenüber allen Währungen so günstig, daß jeder Tourist überall in Italien billig Urlaub machen könnte.

Trotzdem sind die Besucherzahlen 1992 rückläufig und die Ausreden endgültig erschöpft. Jetzt beginnen die Italiener doch ernsthaft zu fragen, ob nicht auch sie selbst schuld daran haben. Der staatliche Rundfunk RAI hat eine Reisesendung: „Es wird schon wieder besser werden“, unversehens zur Kritik- Transmission aus dem ganzen Land umfunktioniert. Die großen Tageszeitungen legen die Finger auf alle möglichen Wunden, deren es plötzlich sehr viele in Italien gibt.

Mißmutige Kellner und überteuerte Waren

In Jahrzehnten ungeschmälert fetten Zuwachses haben viele Geschäftsleute den Eindruck gewonnen, sie könnten dem Gast oder Kunden so ziemlich alles zumuten: er komme ja doch wieder, weil er die zeitlosen Werte — etwa Archäologisches, Kunsthistorisches und das blaue Meer mit garantierter Sonne — so über alles schätze, daß ihn auch mißmutige Kellner, dreifach überteuerte Warenpreise und verkommene Herbergen nicht abhalten können. So verlangen bereits mittelmäßige Osterien in Kleinstädten ohne besondere touristische Attraktionen schon manchmal 20.000 Lire (27 Mark) für einen gewöhnlichen Teller Spaghetti, kassieren Strandbars für den Espresso, sofern man auf einem der wackeligen Stühle Platz nimmt, 3.000 Lire, kostet der Liegestuhl mit Sonnenschirm pro Tag 30.000 Lire, die Taxifahrt vom Bahnhof zum Hotel 20.000 für einen knappen Kilometer. Vorbei sind die Zeiten, wo es preiswerte schicke Schuhe und Kleider gab. Doch „das alles ist noch gar nichts gegen die Qualität dessen, was geboten wird“, schimpft il Giornale: „heruntergekommene Gastronomie, mangelhafte Waren, miserable Bedienung. Da kann selbst der gutwillige Gast nur mit Grausen seine Koffer packen.“ Das sehen inzwischen auch viele italienvernarrte Reisende so. „In der Frühstücksbutter eines Dreisternehotels südlich von Rom“, erinnert sich der NDR-Reiseautor Achim Tacke, „waren die Zahnabdrucke von Nagetieren zu erkennen.“

Viele Tourismus-Dienstleistungsbetriebe haben sich in den fetten Jahren angewöhnt, die Saison je nach Arbeitslust im Kalender herumzuschieben. In den siebziger Jahren öffneten beispielsweise in Terracina — mitten zwischen Rom und Neapel und damit supergünstig für saisonunabhängige Besuche in den beiden attraktionsreichen Städten — die Strandbars und Restaurants um Ostern herum und schlossen erst Ende Oktober. Anfang der achtziger Jahre verschoben sie den Saisonbeginn auf den Monat Mai mit der Begründung: nach Ostern wäre nur wenig eingenommen worden, und deshalb rentiere es sich nicht, den Betrieb aufzunehmen. Dann erschien ihnen auch der Mai nicht attraktiv genug — allenfalls Bayern verbrachten dort die Pfingstferien. Mitte der achtziger Jahre ist der Saisonstart dann auf Mitte Juni verlegt worden, und neuerdings öffnen viele erst Anfang Juli, wenn die italienischen Ferien beginnen. Dafür aber schließen die meisten bereits spätestens Mitte September. Begründung: Die Kundschaft tröpfle zu Beginn nur eben so, man wolle erst anfangen, wenn wirklich viele kämen...

Den Schaden erkennt die italienische Tourismusbranche erst jetzt: Oster- oder Pfingstkunden haben den Ort weiterempfohlen, und die zwischen den Feiertagen angereisten Urlauber oder Paare mit Kleinkindern waren zufrieden. Das brachte auch während der Hochsaison volle Häuser. Durch den verschobenen Dienstleistungsbeginn sind immer mehr Vorsaison-Gäste ausgeblieben, was sich auch auf die Sommerbelegung auswirkte. Heute findet man sogar im August halbleere Pensionen. Zwei Drittel der Hotelbetten sind in Terracina nicht mehr belegt.

Halbleere Pensionen während der Saison

„Italien ist sicher das einzige Land der Welt“, kritisierte die Reisesendung der RAI, „das voll vom Tourismus abhängt und es sich dennoch erlaubt, genau in der Hochsaison mehr als die Hälfte seiner Geschäfte in den Großstädten zu schließen und zwei Drittel aller Museen und archäologischen Stätten zuzumachen.“

In der Tat: Wer im August nach Rom, Neapel, Mailand oder Verona fährt und dort originelle Kleider Schuhe oder andere Gebrauchsgegenstände kaufen will, steht oft vor einem „Chiuso per ferie“. In Rom zwingt der Regierungspräsident bereits seit Jahren mit einem Dekret und Strafandrohung viele, ihre Lebensmittelläden nicht während der Sommermonate zu schließen, weil sich sonst nicht einmal mehr die Römer selbst versorgen könnten.

Daß Museen gerade zur Hauptreisezeit unbedingt wegen Renovierung schließen müssen oder Abteilungen wegen Umgestaltung zumachen oder auch mal, wie in den Uffizien zu Florenz, wegen Personalmangels gar nicht erst öffnen, gehört inzwischen nicht nur zum Leid Kunstsinniger. Und wenn schon geöffnet wird, dann allenfalls für drei oder vier Stunden zu einem Eintrittspreis von weit über 10.000, manchmal sogar 15.- bis 17.000 Lire. Giulio Carlo Argan, Nestor der italienischen Kunsthistoriker, hat vor kurzem in einem dramatischen Alarmruf darauf hingewiesen, daß „mehr als zwei Drittel aller Museumsbestände in Italien bereits im Zustand vorangeschrittener Verrottung, die Hälfte davon unwiderbringlich zerstört ist“. Die einst weltberühmte kunsthistorische Bibliothek im Palazzo Venezia in Rom ist seit mehr als einem Jahrzehnt geschlossen — und offenbar hat in dieser Zeit auch niemand restauriert: fast drei Viertel der unschätzbaren Bestände sind durch Feuchtigkeit oder Schädlingsbefall bereits so stark angegriffen, daß auch eine Restauration nur noch Teilerfolge haben wird. Die beiden Minister täten also gut daran, die Ratschläge ihrer Vorgänger zu beherzigen. Aber auch die Vorgänger hatten das Desaster von ihren Vorgängern übernommen und keine Lösung gefunden.