Der Schuß vor dem Schloß in Zeesen verhallt im Nichts

■ Vor einem Jahr berichtete die taz über einen rechtsradikalen Angriff auf ein besetztes Schloß in Zeesen südlich von Berlin/ Ein niederländischer Bürger wurde durch eine Kugel verletzt/ Kripo-Mann spricht von »riesiger Schlamperei«/ Chaos oder bewußte Verzögerung bei den Ermittlungen?

Berlin. In einer Kreuzberger Kneipe krempelt Jurjen de Vries den rechten Ärmel seines Hemdes auf. Auf der Innenseite seines Oberarmes leuchtet eine rund 15 Zentimeter lange Narbe. Eine Narbe, die der heute 33jährige Niederländer sein Leben lang mit dem 25. August 1991 in Zusammenhang bringen wird. Ein Tag, der für ihn hätte tödlich enden können. Noch heute, über ein Jahr danach, erinnert sich de Vries an die Einzelheiten jenes lauwarmen Sommerabends vor dem Schloß in Zeesen, einem kleinen Ort rund 20 Kilometer südlich von Berlin. Mit fünf Bekannten hatte er vor dem Eingangstor des halb verfallenen Gebäudes gestanden, das erst ein paar Wochen zuvor von Autonomen und Künstlern aus Berlin besetzt worden war. Dieser Sonntag war ruhig verlaufen. Am vorangegangenen Abend hatten rechte Skinheads versucht, das Schloß zu stürmen. Vergeblich. Die rund 20 Besetzer, verstärkt durch Freunde aus der Berliner linken Szene, konnten den Angriff der Skinheads zurückschlagen.

Doch der symbolische Sieg der Linken im Kleinkrieg von Zeesen hatte ein blutiges Nachspiel — das Opfer hieß de Vries. Gegen 21.30 Uhr an diesem Abend tauchte aus der Dunkelheit ein metallic-farbener BMW auf, fuhr mit Abblendlicht langsam an der Gruppe vorbei. Plötzlich fielen aus dem Wagen zwei Schüsse — einer traf de Vries, durchschlug seinen Arm. Freunde brachten den Blutenden noch am selben Abend in das nahe gelegene Kreiskrankenhaus von Königs Wusterhausen, wo er in der Unfallstation verbunden wurde.

Possenspiel bei Ermittlungen

Bis zu diesem Zeitpunkt läuft die Geschichte in den üblichen kriminalistischen Bahnen. Die alarmierte Kriminalpolizei in Königs Wusterhausen fertigt eine Tatortskizze an und vernimmt noch in der Nacht vom 26. August mehrere Zeugen, darunter auch de Vries. Doch als die Polizei am selben Tag gegen 14 Uhr im Krankenhaus erscheint, um de Vries' Zeugenaussage unterschreiben zu lassen, finden sie ein leeres Bett vor. De Vries hat das Krankenhaus verlassen und ist nach Berlin zurückgekehrt. Erst im April dieses Jahres gelingt es der Polizei, de Vries noch einmal zu vernehmen.

Bis zu diesem zweiten Vernehmungstermin spielt sich in den Brandenburger Behörden ein regelrechtes Possenspiel ab. Zunächst sieht alles noch danach aus, als kämen die Ermittlungen zügig voran. Die Polizei vor Ort hört sich in der rechtsradikalen Szene um. Ende August 1991 vernimmt das Kreiskriminalamt in Königs Wusterhausen den 17jährigen Silvio J., ein Mitglied der neonazistischen »Nationale Front« (NF). Dabei tauchen Details über den Organisationsgrad der rechtsradikalen Szene im Kreis Königs Wusterhausen (KW) auf: Nach den Schilderungen von J. soll die rechte Szene in KW bereits über Präzisionswafffen und Handfeuerwaffen verfügen, um sich der »Aufrüstung« der Kreuzberger Linken zu stellen. Der Angriff auf de Vries wird nach den Aussagen von J. in der rechten Szene einer weiter rechts stehenden Gruppierung aus der alten Bundesrepublik zugeordnet. Bei einem zweiten Gespräch schildert Silvio J. Unterredungen mit einem gewissen Ralf L., der innerhalb der NF als »Jungsturmführer« bekannt sei. Dessen Name taucht nach dem Bericht des Bezirkskriminalamtes in Potsdam auf einer Liste auf, die bei einer Hausdurchsuchung des inzwischen verstorbenen Michael Kühnen in Erfurt sichergestellt wurde — einem der wichtigsten Männer der neonazistischen Szene in Deutschland. Trotz dieser Tatsache und obwohl J. im selben Gespräch L. als Mann beschreibt, über den alle Aktionen im Kreis laufen und der Kontakte zum örtlichen »Ku-Klux- Klan« (KKK) und einer Terrorgruppe namens ISOR haben soll, hält die Polizei es nicht für nötig, nach eventuellen Zusammenhängen mit dem Fall de Vries zu forschen.

Ähnlich unkoordiniert verfährt auch die zuständige Staatsanwaltschaft in Postdam. Am 28. August 1991 fordert sie eine gerichtsärztliche Stellungnahme zur Schußverletzung von de Vries an. In Presseberichten hatte es geheißen, aus dem Wagen sei mit einer sowjetischen Maschinenpistole der Marke »Kalaschnikow« gefeuert worden. Das Gutachten des »Instituts für Gerichtliche Medizin« in Potsdam vom 1.10.91 stellt jedoch fest, daß die Schußwunde bei de Vries auf eine kleinkalibrige Handfeuerwaffe zurückzuführen ist.

Mit diesen dürftigen Erkenntnissen haben die Ermittlungen zunächst einmal ihr Ende gefunden — so scheint es. Ein halbes Jahr lang wandert die Ermittlungsakte zwischen der zuständigen Staatsanwältin Marianne Böhm und der Potsdamer Polizei hin und her. Die 30jährige Böhm, zuständig für Kapitalverbrechen, weist die Schuld am schleppenden Verfahren weit von sich. Die Ermittlungen seien in diesem Zeitraum vom 4. Kommissariat (Staatsschutz) in Potsdam geführt worden: »Ich sehe nicht ein, warum ich mir den Schuh anziehen soll, wenn der Staatsschutz Bockmist baut.« Monatelang habe sie nicht mehr als »fünf bis sechs Blatt« in der Handakte gehabt. Ihr Kollege Manfred Pormann, der politische Straftaten verfolgt und in dieser Anfangsphase mit dem Fall betraut war, rechtfertigt die mangelnden Ergebnisse des Staatsschutzes mit »der Vielzahl von Personaländerungen, die in dieser Zeit bei den Ermittlungsbehörden stattgefunden haben«.

Wiederaufnahme nach einem halben Jahr

Erst nachdem im März das 1. Kommissariat den Fall übernimmt, gehen die Untersuchungen weiter — gut ein halbes Jahr nach der Tat. Detlef Schulze, Leiter der Mordkommission, kann diese Tatsache noch heute in Rage bringen: »Zu dem Zeitpunkt lag der Fall schon viel zu lange zurück«. Eine »riesige Schlamperei, ein Tohuwabohu« nennt Schulze, der seit 1978 in Potsdam arbeitet, die Vorgehensweise im Fall de Vries. Tatsächlich müssen sich seine Beamten Anfang März 92 bei untergeordneten Stellen in KW kundig machen. Von einem dort arbeitenden Kollegen erfahren sie, daß der Staatsschutz »umfangreiche Ermittlungen« geführt haben soll, wie es in einer Akte vom 9. März sybillinisch heißt. De Vries, der mittlerweile einen Rechtsanwalt betraut hat, wird von Schulzes Beamten am 14. April dieses Jahres noch einmal angehört. Dabei erfahren die Beamten auch, daß de Vries nach dem Verlassen des Krankenhauses in KW sich in Berlin einer Operation am rechten Arm unterziehen mußte — eine Ader war durch den Schuß verletzt worden. Wie durch ein Wunder sind einen Tag nach der erneuten Befragung Anzeichen einer ernsthaften polizeilichen Untersuchung zu erkennen. In einer umfangreichen Verfügung des 1. Kommissariats wird eine Liste zusammengestellt, die sich wie eine einzige Aufstellung von Unterlassungen und kriminaltechnischen Mängeln liest. Zum ersten Mal wird — ein halbes Jahr nach der Tat (!) — die Polizei angewiesen, in der rechten Szene nach einem möglichen oder zeitweiligen Besitzer eines BMW der 5er-Reihe zu forschen, wie ihn mehrere Zeugen in der Nacht vom 25. August 1991 gesehen hatten. Und zum ersten Mal sollen auch die Zusammenhänge mit der rechten Szene näher unter die Lupe genommen werden. Doch zu mehr als ein paar lapidaren Hinweisen von seiten des Staatschutzes und der Kripo reicht es nicht. Staatsanwältin Marianne Böhm verfügt Ende Mai die Schließung des Falls. Einziges Ergebnis: De Vries sei von einer Kugel aus einer kleinkalibrigen Schußwaffe, wahrscheinlich 3 mm Durchmesser, getroffen worden. De Vries bleibt außer einer Narbe, einer Rechnung über 9.907,25 Mark für die Operation nur das Gefühl, »daß ein Ausländer der deutschen Justiz nicht so wichtig ist«. Severin Weiland

P.S: Nach einer Beschwerde von de Vries' Rechtsanwalt ist das Ermittlungsverfahren vor einigen Wochen wieder aufgenommen worden.