: Rußland: Kurswechsel auf Druck des IWF
■ Russische Regierung will Öl- und Kohlepreise freigeben/ Maßnahme unter Reformern umstritten
Moskau/Berlin (AFP/taz) — Die russische Regierung will die Preise für Rohöl und Kohle bis Ende dieses Jahres verdoppeln und 1993 ganz freigeben. Dies teilte am Donnerstag Energieminister Viktor Schernomyrdin in Moskau vor JournalistInnen mit. Er erwarte, daß im Laufe des kommenden Jahres die Preise Weltmarktniveau erreichen, sagte der Minister. Die russische Regierung unter Premierminister Jegor Gaidar sah sich zu diesem Schritt auf Druck des Internationalen Währungsfonds (IWF) gezwungen, der die Zusage von Kreditgarantien von der Erfüllung zahlreicher Auflagen abhängig gemacht hatte.
Nach den Worten von Schernomyrdin soll auf den Ölpreis eine Steuer von 50 Prozent erhoben werden. Zur Zeit kostet eine russische Tonne Rohöl umgerechnet 28 Mark (4.000 Rubel), während der Weltmarktkurs bei 210 Mark (150 Dollar) liegt. Im nächsten Jahr soll der russische Ölpreis das internationale Niveau erreichen, teilte der Minister auf der Pressekonferenz mit. Rußland plant für 1993 den Export von 240 Millionen Tonnen Rohöl. 250 Millionen benötige Rußland für den eigenen Verbrauch, gab Schernomyrdin an.
Innenpolitisch, auch unter den mit dem IWF kooperierenden Reformpolitikern, ist die Maßnahme höchst umstritten: Sie hilft zwar, das immer größer werdende Loch in der Staatskasse zu stopfen. Andererseits fürchten zahlreiche Experten bei einer gänzlichen Freigabe der Energiepreise eine Verdreifachung der Lebenshaltungskosten — für eine Bevölkerung, die zur Hälfte bereits heute unterhalb des offiziellen Existenzminimums lebt. Und genau wie die Preisfreigabe für Konsumgüter zu Beginn dieses Jahres ändert sie nichts an den Monopolstrukturen der russischen Wirtschaft, die das größte Hindernis auf dem Weg zur Marktwirtschaft sind.
Rußland riskiere den Verlust von 170 Millionen Rubel für die Staatskasse, wenn die Tarife nicht erhöht würden, sagte der Energieminister. Einen genauen Zeitpunkt, zu dem die Preise erhöht würden, wollte Schernomyrdin noch nicht mitteilen — ein Zeichen dafür, daß bei massivem Widerstand die Maßnahme erneut verschoben werden könnnte. Bei Gas und Strom soll die staatliche Preiskontrolle beibehalten werden. Erst im Mai waren die Tarife für Öl und Gas in Rußland um das Fünf- bis Sechsfache erhöht worden.
Die Abschaffung der staatlich festgelegten Höchstgrenzen bei den Energiepreisen wollte die russische Führung schon im April in die Tat umsetzen, doch hatte die Regierung nach erheblichem Widerstand aus dem konservativen Lager und aus der Industrie das Vorhaben zunächst verschoben.
Industrie und Landwirtschaft wehren sich ebenfalls anhaltend gegen eine Preisfreigabe. Für viele Unternehmen könnte die existenzbedrohende Folge eine Explosion der Produktions- und Betriebskosten sein. Aus gutem Grunde erklärte denn auch Energieminister Schernomyrdin, die Regierung habe mit der Maßnahme gewartet, bis die Erntezeit landesweit vorüber ist. dri
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