: „Flüchtlingselend im Freilichtmuseum“
In Hessen steht Familienministerin Blaul von den Grünen vor dem „Unterbringungsnotstand“ für Flüchtlinge/ Rücktrittsgerüchte kursieren in Wiesbaden/ Zelte und Container für AsylbewerberInnen ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt
Frankfurt/Main (taz) — Daß der Rücktritt der hessischen Familienministerin Iris Blaul (Grüne) — oder zumindest eine Ressortbeschneidung — unmittelbar bevorsteht, glauben nicht wenige LandespolitikerInnen, auch aus den Reihen der Grünen. „Unglückliches Handling“ werfen die KritikerInnen der Ministerin, die für die Unterbringung von AsylbewerberInnen zuständig ist, (noch) hinter vorgehaltener Hand vor. Flüchtlingsgruppen und CDU unterstellen der Ministerin, „Obdachlosigkeit produziert“ zu haben. Im Familienministerium war gestern keine Stellungnahme zu den Rücktrittsgerüchten zu bekommen. „Krisensitzung“ — so eine Mitarbeiterin — war angesagt. In den offiziellen Statements der Grünen heißt es dagegen, daß Bundesinnenminister Seiters die Hauptverantwortung für den „Unterbringungsnotstand“ in Hessen trage.
Der parlamentarische Geschäftsführer der Grünen im Hessischen Landtag, Reinhold Weist (MdL), echauffierte sich: „Während die Abgeordneten der Union und der FDP im Innenausschuß die Situation in der Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge (HGU) in Schwalbach beklagen, scheuen sich ihre Parteifreunde nicht, mit den absurdesten Argumenten die Unterbringung der Flüchtlinge vor Ort zu blockieren.“ Auch die CDU-Landtagsabgeordneten Volker Bouffier und Gerald Weiß empörten sich: Die Koalitionsfraktionen SPD und Grüne hätten einen Auftritt der Familienministerin vor dem Innenausschuß und die Zulassung der Öffentlichkeit bei der Ausschußsitzung verhindert. „Die Koalition vermittelt den Eindruck totaler Hilflosigkeit und erschreckender Angst vor der Öffentlichkeit.“
Asylpolitik live: Für die von Ministerin Blaul dem Bund abgerungene Coleman-Kaserne in Gelnhausen, in der 1.000 Flüchtlinge im Rahmen der Notaufnahme untergekommen sind — doppelt so viele wie vorgesehen — wurde vom SPD-regierten Main-Kinzig-Kreis wegen „Mängeln beim Brandschutz“ ein Nutzungsverbot erlassen. Die Nutzung müßte jetzt der zuständige SPD-Regierungspräsident mit Unterstützung des für die Kommunalaufsicht zuständigen SPD-Innenministers Herbert Günther gegen die Parteifreunde vor Ort durchsetzen.
Es herrsche „produzierter Unterbringungsnotstand“ für Flüchtlinge im Lande Hessen, so die Grünen, weil Bürgermeister und Landräte die Schotten dicht machen, weil „Altflüchtlinge“ wegen der schleppenden Bearbeitung ihrer Akten in Zirndorf die Erstaufnahmeeinrichtungen blockieren und weil in Hessen über den Rhein-Main-Flughafen tatsächlich mehr Flüchtlinge einreisen und Asylanträge stellen als in allen anderen Bundesländern. Am Flughafen campieren AsylbewerberInnen auf dem Fußboden der BGS-Einrichtungen, weil sie weder in Schwalbach, noch in Gelnhausen, noch in der ehemals für DDR-Übersiedler reservierten Aufnahmestelle Gießen unterkommen. Seit Monaten platzt die HGU in Schwalbach aus allen Nähten, ein Zeltdorf wurde aufgebaut und eine benachbarte ehemalige US- Kaserne teilweise genutzt. Dennoch mußten Flüchtlinge wiederholt im Freien übernachten.
Um dem Vorwurf der bewußt in Kauf genommenen Obdachlosigkeit kontern zu können, hat das Kabinett Eichel nun beschlossen, was die Grünen aus humanitären Gründen bislang abgelehnt hatten: Auf einem Notparkplatz des Freiluftmuseums Hessenpark im Taunus, auf dem „Kavalleriesand“ in Darmstadt und in der Staatsdomäne Beberbeck bei Kassel sollen „so schnell wie möglich“ Containerdörfer errichtet werden. Bis die „Dörfer“ stehen, werden die Flüchtlinge vorerst in „Zeltstädten“ untergebracht. „Flüchtlingselend als Ausstellungsgegenstand im Freilichtmuseum“, kommentierte ein SPD-Landtagsabgeordeneter die vom Kabinett abgesegneten Notstandsmaßnahmen der grünen Ministerin. Und die CDU sprach von einer „Ohnmachtserklärung der Landesregierung“. Es sei „einfach unglaublich“, wenn jetzt sogar der Parkplatz des Hessenparks mit 500 Asylbewerbern belegt werde: „Die Asylpolitik der Landesregierung wird immer konfuser.“
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