Der schöne, coole Zugriff

■ Musikfest: Das Brodsky-Quartett: ohne akademischen Staub, ganz wie ein kluges Retauratorenteam

4Musiker

Nach der Arbeitswoche Müh' und Plag' steht dem kultivierten Bremer Bürger der Sinn nach Erholung. Schön, wenn er dies Bedürfnis im Rathaussaale mit Kammermusik befriedigen kann. Besonders schön, wenn das zum Musikfest geladene Streichquartett ihm ein Programm bietet, das Erholung und Genuß nicht gefährdet, das er ohne Schwierigkeiten später mit seiner halbwegs gut sortierten Plattensammlung reproduzieren kann. Gut Abgelagertes präsentierte ihm am Samstag abend die „Bremer Lagerhaus“ als uneigennützige Sponsorin. Mißtrauisch mußte den Konzertbesucher allerdings stimmen, daß das Brodsky-Quartett mit Mendelssohn, Debussy und Dvorak lockte, war es doch üner Englands Grenzen hinaus mit bemerkenswerten Interpretationen von nicht der Avantgarde verpflichteten Werken des 20. Jahrhunderts bekannt geworden. Das Mißtrauen war berechtigt, denn ein Abend der Kuschelklassik wurde es dann doch nicht.

Mendelssohn-Bartholdys Fuge op. 81 ist dem Plattenliebhaber bekannt als schönes Beispiel für romantisches Schwelgen in barocker Handwerkstechnik. Nichts davon zeigen die Brodskys. Klare, ruhige und schlanke Tongebung ohne akademischen Staub lassen eine interessante musikalische Studie entstehen: unspektakulär, ohne Aufblähungen. Ein Perspektiven öffnender Einstieg für den Abend.

Dem folgenden Debussy- Streichquartett, das der Berichterstatter schon lange wegen seines schweren Parfumgeruchs in die hinterste Ecke seines Plattenregals verbannt hat, nähert sich das Ensemble wie ein kluges Restauratorenteam, das das Werk beherzt von liebgewonnener, dunkel-verschleiernder Patina befreit: Es erscheint als helles, exakt durchkonstruiertes Klangbild. Impressionistisches Flimmern, gleißendes Licht und Schatten, Stimmungen entstehen im Kopfe des Hörers — aber nicht durch forciertes Gestalten und Verwischen der Musiker. So schön, daß das wegen fehlender Satzangaben im Programmheft irritierte Publikum bereits den ersten Satz wie ein Finale beklatschte.

Bei Dvoraks „amerikanischem“ Streichquartett op. 96 — einem perfekten Kammermusikreißer zwischen U- und E-Musik jedoch, wollte sich der coole Zugriff der Brodskys nicht gänzlich bewähren. Sein ausdrucksstarkes Tänzeln und sein recht alkoholisiertes melancholisches Grübeln verlieren doch etwas an unmittelbarer Wirkung, wenn nicht böhmisch gefetzt oder geträumt wird, sondern englisches Understatement am Werke arbeitet. Und doch gab es neben abfallenden Spannungsbögen — etwa im langsamen Satz — reichlich Anlaß zum Staunen: wenn etwa der Primgeiger die böhmischen Stehgeigergriffe — die Dovorak reichlich einstreut — mit akkurater Noblesse präsentierte, wenn etwa die Cellistin mit Augenzwinkern kontrolliert emotionale Ausbrüche in die Welt des musikalischen Kitsches wagte, oder wenn die Bratsche mit traumwandlerischer Sicherheit exakt die Mitte zwischen enthemmtem Schunkeln und spieltechnischer Präzision traf.

Fürwahr, ein schöner, durchaus nicht nur gemütlicher Abend, zwingt er doch, die häusliche Plattensammlung einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Große Begeisterung des Publikums, das sich nach der Pause daran gewöhnt hatte, daß ein Quartett in der Regel 4 Sätze hat, zwang die Musiker zu Zugaben, die denn doch noch etwas wehmütiger stimmten: Mit zwei kleinen Debussys und einem Copland- Stückchen weckten sie Ahnungen, daß der Abend noch viel aufregender hätte werden können. Mario Nitsche