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Irgendwie als Mittelstürmer besser

Nichts bleibt, wie es war, auch die Atmosphäre im Westfalenstadion war trotz eines guten Spiels und des Erfolgs der Borussia im Elfmeterschießen gegen Bayern München nicht dieselbe wie früher  ■ Von Christoph Biermann

Dortmund (taz) — Der Debutant war ganz schön aufgeregt, als er auf die Südtribune im Westfalenstadion zulief. Verkrampft hielt er sich an seinem Mikro fest und begann seinen fortan holpernden Redefluß mit dem Geständnis: „Ich bin ganz schön aufgeregt.“ Worauf die Fans aber mit aufmunterndem Beifall reagierten. Welcher Klub hat sonst schon einen ehemaligen Mittelstürmer als Stadionsprecher? Und Norbert Dickel ist überdies als quasi-offizieller „Held von Berlin“ schon jetzt unsterblich, sicherte er doch dem BVB dort vor drei Jahren mit seinen Toren den Pokalsieg. Damals spielte er trotz einer Verletzung, von der er sich nicht mehr erholte. Da hat sich einer geopfert für die gute Sache des BVB.

Also wieder eine richtig prima Borussia-Geschichte, wie sie besser nicht ausgedacht werden könnte. Tief aus der Seele des Volkes, rührend sentimental. Ein weiterer kleiner Baustein zur perfektesten Fußballinszenierung in Deutschland. Verständlich für Mann und Frau, Kind und Hund.

Doch leider hat das Glück einige Kratzer bekommen. Die böse Wirklichkeit hat sich ins Westfalenstadion eingeschlichen. Und gerade Norbert Dickel war es vorbehalten, mit der ganzen Kraft seiner Lautsprecherbatterien darauf hinzuweisen: „Ich möchte die Bayern-Fans in der Nordtribüne bitten, sich hinzusetzen. Es wollen doch alle etwas sehen“, mußte er gleich mehrfach ermahnen. Doch die rot-weißen Jubler ignorierten die grünen Sitzschalen auch weiterhin und forderten unüberhörbar: „Sitzplätze raus!“

Mit dem Beginn dieser Saison gibt es auf der gesamten Nordtribüne keinen einzigen Stehplatz mehr. Wo traditionell die Fans der Gastmannschaft standen, herrscht jetzt Sitzzwang. Einer, der teuer zu bezahlen ist. Kostete dort ein Stehplatz bislang 9,50 Mark, müssen für das Glück, in der Hocke Fußball zu gucken, nun 25 Mark ausgegeben werden. Auch rein rechnerisch werden einige Zuschauer zu Hause bleiben müssen, denn durch den Umbau ist die Kapazität so weit reduziert, daß sie knapp unter dem Zuschauerschnitt der Vorsaison (43.327 Besucher) liegt.

Das Pokalspiel gegen die Bayern war mit gut 37.000 Zuschauern aber noch nicht einmal ausverkauft. Borussias Präsident Dr. Niebaum schob es auf die Live-Übertragung im Fernsehen und zuckte nur mit den Schultern: „Wir haben durch die veränderte Struktur im Stadion bei dieser Zuschauerzahl trotzdem eine Einnahme wie früher bei 50.000 Zuschauern.“

Trotzdem kann man dem Vorstand von Borussia Dortmund kaum zynische Beutelschneiderei vorwerfen. „Uns blieb überhaupt nichts anderes übrig“, erklärt Dr. Niebaum. Die Sicherheitskommission des DFB hatte dem Verein schon vor längerer Zeit mitgeteilt, daß das Verhältnis von Steh- und Sitzplätzen im Stadion unausgewogen und mithin der Sicherheit nicht zuträglich sei. „Wollen Sie dann die Verantwortung übernehmen, wenn etwas passiert?“, fragte Dr. Niebaum.

Wichtiger waren aber noch die Beschlüsse der UEFA, daß ab dem Viertelfinale des Europa-Pokals nur noch Sitzplätze angeboten werden dürfen.

Während unter diesem Druck die Volksoper im Westfalenstadion einiges von ihrer Basisnähe verloren hat, funktioniert zumindest in den Köpfen der Fans die alte Ordnung „Geldsäcke“ aus München gegen „Volkshelden“ aus Dortmund immer noch. 85 Minuten des sehr guten, aber nicht überragenden Spiels, „das leider nicht das Endspiel war“ (Ribbeck), maulten die Zuschauer über die Entscheidungen von Schiedsrichter Osmers und besangen gar eine Allianz innerhalb der herrschenden Klasse: „Bayern und der DFB“. Da stand es noch 1:2, die Bayern hatten „spielerisch gut gespielt“ (Ribbeck), Olaf Thon hatte teilweise „Überweltklasse“ (Tribünennachbar) vorgeführt und mit einem tollen Parallelslalom in der eigenen Hälfte („das hab ich noch nie gesehen“ — gleicher Tribünennachbar) diese Führung vorbereitet. Bayern schien also auch in Dortmund wieder an das alte „erfolgreich-weil-clever-und-glücklich-Spiel“ vergangener Tage anzuschließen, da traf Thons Fuß Chapuisats Knöchel. Im allgemeinen Tumult zog Osmers dann die gelbe Karte gegen Thon, der, weil es seine zweite war, fortan nicht mehr dabei war.

Drei Minuten später trat Chapuisat den Ball nach einer Ecke volley über die Linie und die Bayern-Spieler, die sich inzwischen als Opfer krasser Benachteiligung fühlten, eilten Osmers hinterher, um ihm höhnisch Beifall zu spenden. Dabei ging das 2:2 nach 90 wie nach 120 Minuten völlig in Ordnung. Bayern hatte in den ersten 20 Minuten Traumfußball gespielt, in der zweiten Halbzeit hatte Borussia das Spiel bestimmt.

Bei der Elfmeter-Lotterie verschoß allein der Brasilianer Mazinho. Als sich daraufhin alles in die wohlbekannten Jubelszenen aufgelöst hatte, wachte auch Norbert Dickel wieder auf und verkündete offiziell das Schlußergebnis. Irgendwie war er als Mittelstürmer besser.

Bayern München: Aumann — Thon — Kreutzer, Helmer — Jorginho, Scholl, Wouters, Schupp, Ziege (56. Wohlfarth) — Labadia, Mazinho

Zuschauer: 37.430

Tore: 1:0 Reinhardt, 1:1 Labadia (16.), 1:2 Mazinho (59.), 2:2 Chapuisat (85.)

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