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Vom Prototyp zum strahlenden Technosaurier

70 Kilometer nördlich von Berlin liegt am Stechlinsee das stillgelegte Atomkraftwerk Rheinsberg — Besichtigung frei, fotografieren verboten/ Immer noch arbeiten 330 Leute in Deutschlands realstem Atomkraftmuseum/ Stillegung soll 500 Millionen Mark kosten  ■ Von Hermann-Josef Tenhagen

Rheinsberg (taz) — Am weit geöffneten Tor grüßt nur die metallene Friedenstaube, das Häuschen zur Linken ist verwaist. Nadelbäume säumen einen Betonweg, der sich im Wald verliert. Am Ende der Piste wartet Deutschlands realstes Atomkraftmuseum: Der 70-Megawattmeiler Rheinsberg am Stechlinsee, eine Mischung aus russischer Uralt-Technik und DDR-Eigenbau, liegt seit zwei Jahren still, aber immer noch beschäftigt die Anlage hier im strukturschwachen Norden Brandenburgs gut die Hälfte der ehemals 670 Arbeiter und Angestellten. Auch der Parkplatz verrät nichts von der Stillegung. Die Bushaltestelle ist überflüssig geworden, viele Autos westlicher Bauart haben heute morgen die Taube und das dahinterliegende Atomsymbol passiert.

PR-Beauftragter Frohmut Pietsch begrüßt die neugierige Gruppe aus Berlin. Sein atomares Museum hat in den vergangenen Monaten nicht allzuviel Besuch erhalten, verrät er uns. 300 Menschen vielleicht kämen jährlich, um den stillgelegten Reaktor zu besichtigen. Geschäftsreisende dagegen geben sich die Klinke in die Hand. Die Zahl der Herren, die an diesem nieselnassen Morgen in feinem Tuch auf dem Gelände herumspazieren, ist beachtlich. Die Auftragssummen, um die es geht, sind es auch: Mindestens 500 Millionen Mark sollen bis zum Jahr 2009 ausgegeben werden, damit, wo jetzt der Meiler steht, wieder Blumen blühen. Auch Siemens und Nukem bemühten sich, so Pietsch. Und es gehe gut voran. Dafür sorge seit einem Jahr der pensionierte Werksleiter aus dem seit Jahren stilliegenden bayerischen Atomkraftwerk Niederaichbach. Mit seinen Erfahrungen sei dieser Mann schier unersetzlich, gerade beim Formulieren der entsprechenden Anträge.

In der Informationsbaracke stellt sich Pietsch den Fragen; er weicht ihnen nicht aus, schaltet den neuen westlichen Tageslichtprojektor an und aus, hat in einem Regal demonstrativ verschlissene Reaktorrohre liegen, die „selbstverständlich nicht verstrahlt sind“. Die Antworten kommen präzise: 20.000 Kubikmeter Wasser habe das AKW früher stündlich aufgewärmt und in den Stechlinsee entlassen. Verstrahlungen seien keine gemessen worden, der See sei „nur an seiner Oberfläche um ein Grad erwärmt worden“.

Die Idee für den Reaktor stammt aus den fünfziger Jahren, der Glaube an den Fortschritt war beim ersten Spatenstich 1957 noch unbegrenzt. Der Nehmitzsee und der Stechlinsee sollten als dritter Kühlkreislauf für den ersten Atommeiler des Arbeiter- und Bauernstaates herhalten. Das Land drumherum war dünn besiedelt — wenn es denn zur Katastrophe kommen sollte. Den Nehmitzsee haben die DDR-Oberen als Kühlwasserrerservoir um 45 Zentimeter aufstocken lassen. Das Wasser floß dann ab 1966 zur Kühlung ins AKW, um anschließend auf 30 bis 35 Grad aufgewärmt in den Stechlinsee abgelassen zu werden. Am anderen Zipfel des Stechlinsees verbreiterten die kollektiven Kraftwerksbauer gleichzeitig einen Kanal, der das überfließende Stechlinwasser wieder in den Nehmitzsee ablaufen ließ.

In der Reaktorwarte und der Strahlenschutzwarte haben die Mitarbeiter immer noch ein Auge auf die Instrumente aus der elektronischen Steinzeit — ganz so, als sei der Reaktor noch in Betrieb. An der Tür kleben die Hinweisschilder für Störfälle und „schwere Havarien“. Nach wie vor werden die Arbeiter „jährlich einmal auf Strahlentauglichkeit untersucht“, gehören Dosimeter und Filmplakette zum Alltag. Der Kessel und das Innere des kleinen Techno- Sauriers strahlen eben immer noch, erklärt Pietsch. Sie müßten deshalb kontrolliert werden. Die Kontrollinstrumente mit kyrillischer Schrift und grobschlächtigen Griffen erinnern an Science-Fiction-Filme aus den fünfziger Jahren. Wer immer in den vergangenen 25 Jahren „das erste Exportkernkraftwerk der Sowjetunion“ (Pietsch) fuhr, er hatte einen großen Hebel in der Hand, nicht die kleinen leuchtenden Knöpfe, die heute in modernen AKWs blinken.

Wehmut mischt sich manchmal in Pietschs Stimme. Die Leute seien bei der Abschaltung 1990 noch motiviert gewesen. „Wir hätten uns zugetraut, den Reaktor noch zwei Jahre zu fahren.“ 1992 sollte das AKW ohnehin abgestellt werden — mehr als 25 Jahre Lebensdauer trauten die Konstrukteure den Rohren, Pumpen und Ventilen von Anfang an nicht zu. Wehmut vor allem beim Gedanken an die Simulationsanlage. Schon sehr bald nach der Inbetriebnahme des Reaktors 1966 hatten die Ost- Atomiker eine Simulationsanlage für den Betrieb der russischen Meiler bauen lassen. Die Technik sei „von den Freunden damals ignoriert worden“, so Pietsch. Aber im Musterland des Sozialismus sollte niemand das große wilde Tier ohne Training besteigen. 5.000 Atomwerker seien an den Geräten ausgebildet worden. Heute, so Pietsch süffisant, „werden die Russen in Greifswald geschult“. Dann aber mischt sich Bitterkeit in seine Stimme: Das Deutsche Museum in München habe die Anlage nicht haben wollen, das Teil sei angeblich zu groß gewesen. Jetzt ist sie demontiert worden.

Pietsch spricht auch von den Gründen für die Stillegung. Er führt die mustergültige Sicherheit eines Westreaktors an, vergleicht seinen Rheinsberger Meiler damit: Das alte Stück habe kein Containment gegen Flugzeugabstürze und zum Festhalten der Strahlung bei Unfällen gehabt. Wenn eine Schutzvorrichtung ausgefallen wäre, hätte es keine zweite gegeben. Für große Rohrbrüche sei die Notkühlung, mitten in der Mark Brandenburg, 70 Kilometer von Berlin, nicht ausgelegt gewesen. Fast beiläufig kommt aber auch der Stolz des Technikers durch: „Wissen Sie, im Westen, da haben die Bedienungsmannschaften beim Störfall eine halbe Stunde Zeit. Hier mußte der Schichtleiter mitdenken, sofort reagieren.“ Gut ausgebildet seien sie alle gewesen, die Jungen würden heute im Westen vielfach gutes Geld verdienen.

Manchmal nimmt der Glaube an westliche Technologie und westliches Know-how Überhand. So bei den Broschüren, die die treuhandeigenen Energiewerke Nord, Pietschs Arbeitgeber, in der Informationsbaracke auslegen. Darunter etwa ein Strahlenschutzbändchen der bayerischen Landesregierung. Wenn jemand einer Strahlendosis über vier Tage ausgesetzt ist statt an einem Tag, sei sie bei weitem nicht mehr so gefährlich: „Beispiel: Wirkungen beim Sonnenbaden“. Die Bilderreihe wirkt überzeugend, sie stammt aus dem Jahr 1986 — vor Tschernobyl. Erhellend auch die Broschüre über die ausgereiften Lösungen des Atommüllproblems, 1988 entstanden, vor dem Ende der ausgereiftesten Lösung der deutschen Atomindustrie: Wackersdorf. In den Broschüren, anders als in der Realität, ist die westliche Atomwelt noch in Ordnung.

Pietsch weiß es besser. Die Werksleitung arbeitet daran, daß die Welt zumindest in Rheinsberg bald wieder in Ordnung ist. Den mittelradioaktiven Müll aus Rheinsberg wollen die Energiewerker „schnellstens in Morsleben loswerden“. Schließlich ist das DDR-Endlager gerade mal wieder offen. Und die 18 Tonnen abgebrannter Brennelemente (eine Reaktorladung) möchten die Brandenburger den pommerschen Kollegen in Greifswald andrehen. Dann müsse in Rheinsberg „nur noch“ der Reaktor abgerissen werden. 1997 soll mit dem Gebäude angefangen werden, 2003 ist nach den Planungen dann der Reaktorkern selbst fällig. 330.000 Tonnen Schutt werde anfallen, aber nur 670 Tonnen müßten ins Endlager, rechnet Pietsch den Gästen vor. Irgendwie wollen die Rheinsberger sogar die hochkontaminierten Betonschichten von den Wänden abkratzen, um den Endlagermüll zu verringern. Wie, das weiß Pietsch auch noch nicht. Viel Geld werde die ganze Operation schon kosten, räumt er ein.

Abtransportiert wird der hochradioaktive Müll über die zu DDR-Zeiten auf keiner Landkarte verzeichnete Eisenbahnlinie ins wenige Kilometer entfernte Städtchen Rheinsberg. Ein paar leere Waggons stehen auf dem Hof des Meilers. Hinter einem Verschlag gammeln die Kessel einiger alter Dampfloks vor sich hin. „Damit haben wir das Atomkraftwerk selbst beheizt“, so Pietsch, „als die Parteileitung in Berlin den Verzicht auf Erdöl verfügt hatte.“

Manchmal macht aber auch unser Tourguide sich und anderen etwas vor. Eklatantestes Beispiel: Am Abluftkamin des Atommeilers demonstriert uns Pietsch stolz die Möglichkeit, zu sehr verstrahlte Luft unterwegs noch abzufangen und in einen Speicherraum wegzupressen. Wenn die Luft dort einige Tage gelagert wird, sei die Strahlung, vor allem die Strahlung des radioaktiven Jod, abgeklungen. Dann habe man die Luft — mit all den langlebigeren Strahlen — nach draußen abgeben können. „Wir haben immer nur radioaktive Gase abgegeben, die weit unter den jeweiligen Grenzwerten lagen.“

Friedenstaube hin, Atomtourismus her: Rheinsberg ist und bleibt ein AKW. Der Wachschutz am inneren Tor erteilt Hausausweise und stützt die Hand auf den Pistolenknauf. „Und fotografieren“, so unser Führer Pietsch, „ist grundsätzlich verboten.“

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