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Hessens Grüne opfern Bäuerin

Staatssekretärin Sellach im Familienministerium wurde wegen der Kritik an Ministerin Blaul gefeuert  ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt

Frankfurt/Main (taz) — Als eine „in der Geschichte der Grünen fast beispiellose Fehlleistung“ bezeichnete der Landesvorsitzende der Grünen Jugend Hessen (GJH), Tarek Al- Wazir, die Entlassung der Staatssekretärin im grünen Ministerium für Familie, Jugend und Gesundheit, Brigitte Sellach. Und auch auf dem Parteirat der hessischen Grünen am Sonnabend wurden harsche Worte der Kritik vor allem an den MinisterInnen Iris Blaul und Joschka Fischer und am Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Landtag, Rupert von Plottnitz, laut. Die drei SpitzenpolitikerInnen der Grünen hatten am Freitag — zusammen mit den sozialdemokratischen MinisterInnen und dem Regierungschef — die Entlassung verfügt.

Sie reagierten damit auf die Kritik an der Führungsspitze des Familienministeriums, das Probleme mit der Unterbringung von Flüchtlingen (taz vom 12.9.) hatte. Auf Nachfrage erklärte Rupert von Plottnitz am Sonntag, daß es im Ministerium „Defizite in Sachen Verwaltungsarbeit“ gegeben habe. Deshalb habe man sich für einen neuen Staatssekretär mit der entsprechenden Verwaltungserfahrung — und nicht gegen Brigitte Sellach ausgesprochen. Rupert von Plottnitz: „Wir danken Frau Sellach für die geleistete Arbeit.“

Zum Nachfolger von Sellach wurde der nach dem Zusammenbruch der rot-grünen Koalition in Marburg geschaßte Umweltdezernent Alexander Müller ernannt. Für die grummelnde Basis auf der Parteiratssitzung war das ein Beleg dafür, daß die Ablösung von Sellach „von langer Hand vorbereitet wurde“. Obgleich Sellach die Erstunterbringungskapazität für Flüchtlinge in Hessen von 4.000 auf 8.000 Plätze gesteigert habe, seien auch die Grünen im Landtag und in der Regierungsverantwortung „vor der sogenannten öffentlichen Meinung eingeknickt“ — „und möge diese Meinung auch noch so unqualifiziert und dumm sein“. Der Staatssekretärin jedenfalls könnten weder die knapp 400.000 unerledigten Asylanträge in Zirndorf noch die Nichterfüllung der Flüchtlingsquoten durch die Kommunen und Landkreise vorgeworfen werden. Die Entlassung von Sellach zeuge von einem Politikverständnis, in dem Menschen nur „Schachfiguren“ seien — „und als Bauern geopfert werden“.

Nachdem vor allem die Parteijugend auf der Parteiratssitzung Dampf abgelassen durfte, erreichte man unter der Flagge der Richtlinienkompetenz der Führungsspitze der Partei wieder ruhigeres Fahrwasser. Ein Antrag wurde verabschiedet, in dem sich die Mitglieder des Parteirates gegen jede Änderung am Artikel 16 Grundgesetz aussprachen, die Kommunen zur Erfüllung ihrer Unterbringungskontingente aufforderten und die Hauptschuld an der Unterbringungsmisere Bundesinnenminister Rudolf Seiters anlasteten. Und per Antrag ging noch ein „herzliches Dankeschön“ an die Adresse der geschaßten Staatssekretärin.

Schon heute will Ministerin Iris Blaul, deren Entlassung „wegen Unfähigkeit“ vor allem die Union seit Monaten fordert, das nachholen, was Flüchtlingshilfegruppen ihr seit Monaten als „Versäumnis“ vorwerfen: Zusammen mit ihrem neuen Staatssekretär wird sie die aus allen Nähten platzende Hessische Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge (HGU) in Schwalbach besuchen. Auch an Iris Blaul gingen die Auseinandersetzungen der vergangenen Wochen — vor allem der Entlassungsantrag der Union und der FDP im Landtag — nicht spurlos vorüber. Wie Insider berichteten, habe die Grüne mehrfach ihren Rücktritt angeboten. Doch für Joschka Fischer und Rupert von Plottnitz war ein solcher Schritt aus parteipolitischen Gründen nie Thema. Aus der Schußlinie der Opposition hat der Wechsel im Familienministerium die Ministerin nicht gebracht: „Dies ist kein Neuanfang in der hessischen Asylpolitik“, kommentierte die Union, „das Gewurstel geht weiter.“ Eichel müsse sich gegen die Grünen endlich durchsetzen, die Ministerin „wegen völliger Überforderung“ entlassen und die „Geschicke“ selbst in die Hand nehmen, so CDU-Sprecher Dirk Metz.

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