: Ausstieg aus der Zeit
Sandro Chia in der Neuen Nationalgalerie Berlin ■ Von Werner Köhler
Hunger nach Bildern! So hieß die Parole, mit der die Malerei Ende der siebziger Jahre in Deutschland und Italien ihre Wiederauferstehung feierte. Die „Neuen Wilden“ aus Berlin, die „Mülheimer Freiheit“ aus dem Rheinland und die Stilrichtung der „Arte cifra“ aus Italien eroberten New York und damit den internationalen Kunstmarkt. Heute geben längst wieder amerikanische Künstler den Ton an. Um die mittlerweile „Alten Wilden“ ist es ruhig geworden.
Sandro Chia, der neben Francesco Clemente, Enzo Cucchi und Mimmo Paladino zur italienischen „Transavanguardia“ zählt, ist jetzt mit neuen Arbeiten — frisch aus dem Atelier — in der Berliner Nationalgalerie zu sehen. Insgesamt sind 78 Gemälde und Zeichnungen ausgestellt. Nicht in Form einer überblicksartigen Retrospektive, sondern als Konfrontation seiner „frühen“ Werke Anfang der achtziger mit den neuesten Arbeiten aus den neunziger Jahren.
Chia ist freie Hand gegeben worden, seine Ausstellung selbst zu inszenieren und die obere Etage des Mies-van-der-Rohe-Baus zu bespielen. Clever stellt er seine größten und besten Bilder an den Eingang des Ausstellungsparcours. Vierzehn Werke waren bereits 1983/84 auf einer Wanderausstellung durch die damalige Bundesrepublik sowie in Wien und Paris zu sehen. So das schönfarbige, fast monochrome Bild der „Blauen Grotte“, in die, von einer gelben Aura umgeben, rücklings und kopfüber ein Mann fällt. Oder auch das Fantasy-Bild „Der Sohn der Magd“, wo ein Ritter mit Hund, beide mit einem blasenartigen weißen Schutzschirm umgeben, durch ein Farbenmeer waten.
Viele dieser Werke aus der Anfangsphase der „Arte Cifra“ können als allegorische Selbstporträts gelesen werden. Der gelingende Akt malerischer Inspiration („Dionysos' Küche“) wird genauso thematisiert wie Schaffenskrisen („Unfähiger Zauberer“) oder der Genuß des Markterfolges („Happy New Year 1980“). Gerade die Aufnahme und ironische Brechung auch des Kunstmarktgeschehens verlieh den Bildern Chias zur damaligen Zeit eine über den momentanen Kunstboom hinausgehende Glaubwürdigkeit und Verbindlichkeit.
Mittlerweile ist der Ruhm Chias verblaßt. Nachdem die Saatchi-Brüder in London ihre Bilder verkauft haben, ist der Marktwert des Malers gesunken. Die Ausstellung in der Nationalgalerie wird Chia wieder ein wenig zu Renommee verhelfen. Der größte Teil der Bilder ist noch verkäuflich und stammt aus dem Atelier des Künstlers oder aus Galeriebeständen. Die Nationalgalerie präsentiert sich derzeit als das größte Kunstkaufhaus Berlins. Honi soit qui mal y pense?
Vom Format her geben sich die neueren Arbeiten gegenüber den älteren Bildern eher bescheiden. Sie zitieren in noch größerem Maße als bisher den neoklassizistischen Stil der zwanziger und dreißiger Jahre. Oft klingt der späte Picasso an. Statuarisch aufgefaßte Figurenpaare blicken maskenhaft melancholisch aus den Bildern am Betrachter vorbei. Die Farben sind selten rein, wirken stumpf und stoßen hart konturiert — beinahe wie in „papiers collés“ — aneinander.
Irgendwie wirkt es so, als sei Chia die Luft ausgegangen. Vermochten vor zehn Jahren noch pfurzende nackte Hintern oder die unverblümte Erotik mancher Darstellungen die Gemüter zu erhitzen, regt sich, wo heute Fäkalien, Pornographie, Sadomaso mittlerweile längst zum zeitgenössischen Bildrepertoire gehören, niemand mehr darüber auf. Der ikonographische Rückzug Chias aus der Gegenwart wird so verständlich. Dieter Honisch, Direktor der Berliner Nationalgalerie, sieht denn auch in den Bildern die Erfahrung realisiert, „wie man aus der Zeit aussteigt und sich selbst als Relikt vergeblicher Zeit begreift“.
Wulf Herzogenrath, Organisator der Ausstellung, kam einer möglichen Kritik der neuen Bilder bei der Pressevorbesichtigung intelligent zuvor. Freimütig bekannte er, daß er 1978, als er Chia zum ersten Mal sah, nichts mit den Bildern anfangen konnte. Da sie mittlerweile aus dem Repertoire der Kunstgeschichte nicht mehr wegzudenken sind, könnte das gleicherweise ja auch mit den neuesten Arbeiten Chias passieren. Leider werden wir das erst im Jahr 2000 wissen.
Die aktuelle Ausstellungspolitik der Nationalgalerie, dem Westpublikum „avantgardistische“ Ost-Künstler vorzustellen und das Publikum aus dem Osten andererseits mit der Westkunst vertraut zu machen, kommt augenblicklich über das Mittelmaß nicht hinaus. Traut man dem neu gewonnenen östlichen Besucherstrom nur die Kunst von gestern zu? Eine so wichtige Kulturinstitution sollte doch eine Rolle für die zukünftige kulturelle Entwicklung nicht nur Berlins, sondern der gesamten östlichen Region spielen können.
Neue Nationalgalerie, Berlin. Bis zum 8.November. Katalog, 259Seiten, im Museum 55DM.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen