: Wie kinderfreundlich ist Berlin?
■ Auf dem Weltkindertags-Fest am kommenden Sonntag demonstrieren Kids in selbstgefilmten Videos, was ihnen am meisten unter den Nägeln brennt / Das größte Problem ist der Verkehr
Rrrrmm, brrrmm, brrrmm rauschen die Autos über die Friedenauer Brücke in Schöneberg. Ein 12jähriger Junge versucht schon seit längerer Zeit vergeblich, die Straße zu überqueren. Endlich hat er eine Lücke im dichten Verkehr erspäht und rennt los. Er kommt jedoch nur bis zum Grünstreifen auf der Mittelinsel. Brrrmm, brrrmmm, brrrmm zischen die Autos diesmal in umgekehrter Richtung an ihm vorbei. Der Junge wird sichtlich nervös, tritt von einem Fuß auf den anderen, nimmt plötzlich Anlauf und hechtet mit einem gewagten Sprung durch eine Lücke auf die andere Seite.
Die Szene stammt aus dem Videofilm »Rasen, Stinken, Vorsicht«, den elf- bis 13jährige Kinder der Jugend- Etage des Nachbarschaftsheims Schöneberg gedreht haben. Ausschnitte daraus werden am Weltkindertag am kommenden Sonntag auf einem großen Fest am Brandenburger Tor im Kindermedien-Zentrum gezeigt. Auf Anregung des Deutschen Kinderhilfswerks, das die Veranstaltung in Berlin organisiert, haben die Kids von Kindereinrichtungen der Bezirke Treptow, Lichtenberg, Mitte, Kreuzberg, Friedrichshain, Charlottenburg, Hohenschönhausen, Hellersdorf, Neukölln, Tiergarten und Schöneberg Videofilme gedreht. Die Fragestellung: Was brennt den Kindern im Kiez am meisten unter den Nägeln? »Das Hauptproblem der Kinder aller Bezirke ist eindeutig der Verkehr«, bringt der Leiter des Schöneberger Clip Medienzentrums für Kinder und Jugendliche, Jürgen Macpolowski, der die Videos für den Weltkindertag zusammengeschnitten hat, das Ergebnis auf den Punkt.
In Berlin leben rund 220.000 Kinder im Alter zwischen sechs und 14 Jahren. Die Zahl der zugelassenen Kraftfahrzeuge beläuft sich zur Zeit auf 1,461 Millionen. Die 269.000 stillgelegten Wagen hinzugerechnet und das Ganze mal 13 genommen — nach der Stellplatzverordnung benötigt ein Auto 13 Quadratmeter Platz — ergibt 2.249 Hektar Fläche, die die parkenden Autos in der Stadt in Beschlag nehmen. Die öffentlichen Kinderspielplätze hingegen verfügen nur über eine Fläche von 151 Hektar. Ganz brutal wird es, wenn sich der ruhende Verkehr in Bewegung setzt. 1990 kamen in Westberlin 5 Kinder durch Autos ums Leben, 1.693 wurden verletzt. 1991 starben in Gesamtberlin 13 Kinder im Verkehr, 2.517 wurden verletzt.
Die Kinder, die an der Friedenauer Brücke den alltäglichen Kampf bei der Fahrbahnüberquerung demonstrieren, haben in ihrem Videofilm auch Autofahrer interviewt: »Warum fahren so viele Leute mit dem Auto, stehen im Stau und verpesten die Luft, wenn man auch mit der BVG fahren kann?« Hier eine kleine Auswahl der Antworten: »Weil's bequemer ist« — »Weil ich Sachen transportieren muß« — »Laß mich in Ruhe« — »Ist bequemer, dann brauche ich nicht umzusteigen« — »In der BVG ist es mir zu voll, da bekomme ich Platzangst«. Das Fazit der Videomacher: Die Friedenauer Brücke »ist nur für Autofahrer da. Für uns Fußgänger ist sie lebensgefährlich«. Wenigstens eine Ampel, so ihre bescheidene Forderung, müsse her.
Der Weltkindertag geht auf eine Resolution der UN-Vollversammlung aus dem Jahr 1954 zurück und wird von den Mitgliederstaaten an unterschiedlichen Tagen begangen. In der DDR war es der 1. Juni, in der alten Bundesrepublik und West-Berlin der 20. September. Früher wurde das nichtkommerzielle Weltkindertagsfest in Bonn oder anderen westdeutschen Großstädten gefeiert, jetzt ist Berlin zum zweiten Mal hintereinander an der Reihe. Auch wenn der Weltkindertag kaum mehr als eine Alibiveranstaltung ist, hat sich das Deutsche Kinderhilfswerk diesmal alle erdenkliche Mühe gegeben, den Bedürfnissen der Kinder gerecht zu werden. Schon lange im Vorfeld wurden die Kids verschiedener Einrichtungen aufgefordert, kritisch Stellung zu beziehen, wie kinderfreundlich ihre Umgebung ist. Um die Stimmung zu erkunden, fuhren Kinder-Botschafter mit dem Fahrrad oder der Bahn über Land. Neben diversen Spielmobilen wird es am kommenden Sonntag am Brandenburger Tor zum ersten Mal ein Kindermedienzentrum geben, in dem die Kinder die Politiker und Medien persönlich oder per Telefon und Telefax mit ihren Forderungen konfrontieren und eine Kinderzeitung erstellen. Die Zeitung soll bundesweit an Politiker und Kinder verschickt werden. Im Rahmen der um 14 Uhr auf der Aktionsbühne geplanten Kinderversammlung zum Thema »Wie kinderfreundlich ist Berlin?« wird auch die Videozusammenfassung uraufgeführt werden. Danach sollen Jugendsenator Krüger (SPD), Verkehrssenator Haase (CDU) und Umweltstaatssekretär Wicke zu den Fragen und Problemen der Kinder Stellung beziehen. Vor alllem Verkehrssenator Haase sollte sich warm anziehen. Der Leiter des Clip Medienzentrums, Jürgen Macpolowski, hofft, daß die Videos noch lange nach dem Weltkindertag Wirkung entfalten und von den Medien verbreitet werden. »Das wichtigste für die Kinder ist, daß sie durch die Videoarbeit lernen, ihre Bedürfnisse zu äußern und nicht den Erwachsenen alles nachzuplappern.« Im Vorspann des Videozusammenschnitts fragen Kinder Erwachsene: »Wie kinderfreundlich ist Berlin? Würden Sie, wenn Sie jetzt Kind wären, gern noch hier leben?« Fast alle Befragten halten die Stadt für extrem kinderfeindlich. »Hier haben die Hunde doch mehr Rechte als die Kinder«, erregt sich eine Frau. »Wenn ich jung wäre, gäbe es für mich nur eins: sofort hier raus.« Plutonia Plarre
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