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Europa vor der entscheidenden Weichenstellung

■ Selten wurde eine Europa betreffende Entscheidung mit solcher Spannung erwartet wie die morgige Abstimmung in Frankreich. Nach dem Nein der Dänen zu dem Vertrag von Maastricht hängt nun die...

Europa vor der entscheidenden Weichenstellung Selten wurde eine Europa betreffende Entscheidung mit solcher Spannung erwartet wie die morgige Abstimmung in Frankreich. Nach dem Nein der Dänen zu dem Vertrag von Maastricht hängt nun die weitere Entwicklung zur europäischen Einheit an den Franzosen. Der Ausgang ist höchst ungewiß.

Bratislava, den 12.Juni 2014. Die slowakische Regierung der rechtsextremen vaterländischen Rettungsfront hat die Entsendung weiterer Truppen in die von der ungarischen Minderheit bewohnten Unruhegebiete beschlossen. Bei einer Ansprache vor dem Parlament in Budapest forderte Ungarns Premierminister unterdessen die Slowakei ultimativ auf, ihr Militär unverzüglich zurückzuziehen und Verhandlungen mit Vertretern der aufständischen Ungarn aufzunehmen. „Die Ungarn werden nicht länger tatenlos zusehen, wie ihre um Selbstbestimmung kämpfenden Brüder und Schwestern massakriert werden“, rief der Regierungschef aus.

Paris, den 24.Juni 2014. Die bürgerlich-rechtsnationale französische Regierung hat Deutschland abermals davor gewarnt, im slowakisch-ungarischen Konflikt Partei zu ergreifen. Frankreich werde nicht zulassen, daß Deutschland einen neuen Versuch zur Beherrschung Osteuropas unternehme, erklärte der Verteidigungsminister vor seinen Parteifreunden der Nationalen Front. In Berlin verwies ein Sprecher der rot- grünen Koalitionsregierung auf den wachsenden Druck aus der deutschen Öffentlichkeit. Der Schutz ethnischer Minderheiten gehöre zu den Kernstücken der deutschen Außenpolitik. Gerade mit Blick auf seine Geschichte dürfe Deutschland der Verfolgung Unschuldiger in der Slowakei nicht tatenlos zusehen. „Wir werden eine neue jugoslawische Tragödie in Europa nicht zulassen“, sagte der Sprecher.

Ein Horrorszenario, heraufbeschworen aus der Mottenkiste der Historie, angereichert mit den Ängsten der Gegenwart? Gewiß. Aber welch gefährliche Lebendigkeit Geschichte innewohnt, konnte jeder in den vergangenen Monaten aus den Nachrichten entnehmen. Eine einmütige Haltung der EG zu Beginn der Jugoslawien-Krise, eine scharfe, mit Drohungen garnierte Warnung an die Nationalisten in Belgrad und anderswo hätten den Konflikt im Tito- Staat vielleicht noch rechtzeitig eindämmen können. Doch nachdem Deutschland sich rasch an die Seite seiner früheren Freunde in Kroatien gestellt hatte, erinnerte sich Frankreich nur seiner Weltkriegs-Waffenbrüderschaft mit Serbien, während London, seit jeher um den Status quo in Europa besorgt, die auf dem Kontinent wieder einmal aufgeflammten Leidenschaften kopfschüttelnd zur Kenntnis nahm.

Mühsam versuchte die EG, den wochenlangen Streit ihrer wichtigsten Mitgliedsländer über die Bewertung der Krise mit inhaltsleeren Appellen zu überbrücken. Doch der Kaiser war nackt: Der ewige Krisenherd Balkan hatte wie schon zu Urgroßmutters Zeiten die europäischen Mächte entzweit, während die Supermacht Amerika plötzlich von der Bildfläche verschwunden schien. Jahrzehntelange Abstimmung in EG-Gremien, Konsultationsmechanismen, Vier-Augen-Gespräche, Telefonate und Männerfreundschaften konnten nicht verhindern, daß — einige Wochen lang — schon längst überwunden geglaubtes Mißtrauen zwischen Deutschen, Franzosen und anderen „Partnern“ die heillos verwirrte europäische Außenpolitik bestimmten.

Und was hat das alles mit „Maastricht“ zu tun, diesem Vertragskompendium, mit dem vor allem der Schritt in eine Europäische Währungsunion, also der Verzicht auf nationale Souveränität in der Geldpolitik, unwiderruflich festgeschrieben werden soll? Alles. Denn der Vertrag von Maastricht, der am Sonntag vom französischen Wahlvolk vielleicht per Referendum zu Grabe getragen wird, ist vor allem eins: die beste und vielleicht einzige Chance dafür, im kommenden Jahrhundert zumindest in Westeuropa einem Krieg der Staaten unwiderruflich die Grundlage entziehen zu können.

Nicht nur von konservativen Volkswirten ist die in Maastricht beschlossene Währungsunion immer wieder auch deswegen angegriffen worden, weil sie ökonomisch auf wackeligen Füßen stehe und beispielsweise die Deutschen zwingen könnte, das Staatsdefizit in anderen „unsoliden“ Ländern direkt oder indirekt mitzufinanzieren. Der Entschluß zu einer Währungsunion sei letztlich nur aus politischen Gründen gefallen, monieren diese Kritiker.

Na und? Genau darum geht es doch beim Ja oder Nein zu Maastricht, und darum geht es wohl auch seinen Autoren, allen voran dem Franzosen Fran¿ois Mitterrand und dem Rheinländer Helmut Kohl. Der französische Präsident, der widerwillig der deutschen Einheit zustimmen mußte, wünscht sich nichts sehnlicher, als noch vor seinem Abschied das übergroß gewordene Deutschland unwiderruflich in ein gemeinsames europäisches Staatsgebilde einzementieren zu können. Und Deutschlands Einheitskanzler scheint mit seinem Polit-Vorfahren Adenauer vor allem das eine zu teilen: die Vorbehalte gegen einen außenpolitisch frei agierenden, das heißt souveränen deutschen Einheitsstaat.

Denn kaum war die deutsche Einheit unter Dach und Fach, setzte Kohl alles daran, die soeben wiederhergestellte Souveränität baldmöglichst als Mitgift in einen staatlichen Ehebund mit den EG-Partnern einbringen zu können. Nur so ist es zu erklären, daß Kohl bei den Verhandlungen um Maastricht fast auf sämtliche Forderungen der Bundesregierung verzichtete und dazu noch die ach so kostbare Mark „verschenkte“, wie nicht nur die Gossenpresse in Deutschland schrieb.

Mit all seinen Mängeln dürfte der in Maastricht ausgehandelte Vertrag das Beste sein, was im Dezember 91 von den EG-Partnern zu haben war. Weil die Zeit drängt, waren Kohl der (mögliche) Abschied von der bis jetzt von der Bundesbannk verbürgten Preisstabilität und der (vorläufige) Verzicht auf deutsche Wünsche etwa nach einer demokratischeren EG als Preis für eine künftige europäische Währungsunion nicht zu hoch. Denn schon bald würde der von einer gemeinsamen Währung ausgehende ökonomische Druck auch eine abgestimmte gemeinsame Haushalts- und Steuerpolitik erzwingen — der erste Schritt in eine europäische Regierung und damit eine unwiderrufliche Einbindung Deutschlands wäre getan. Das haben Kohls Intimfeindin Lady Thatcher und andere erbitterte Gegner des Maastrichter Projekts klar erkannt. Der Eintritt in die Währungsunion ist gleichbedeutend mit dem Verzicht auf nationale Selbstbestimmung in einem politischen Kernbereich und zieht weitere Souveränitätstransfers nach sich.

Das endgültige Scheitern des sozialistischen Projektes im Ostblock hat nicht nur die Blütenträume vieler Linker auf eine reformkommunistische Zukunft für Europa zerstört, es hat auch die Gefahr hervorgerufen, daß Proteststimmungen sich in westlichen Demokratien künftig vor allem in Stimmen für die Rechtsradikalen äußern. Noch lähmen Zerstrittenheit und Mangel an geeignetem Führungspersonal das braune Lager in Europa. Doch was passiert mit der Europäischen Gemeinschaft, wenn wachsender Nationalismus in der Bevölkerung bürgerliche Konservative à la Papen zu Regierungsbündnissen mit rechtsradikalen Kräften bewegen sollte? Wer weiß, ob die EG-Mechanismen schon jetzt ausreichen, militärische Spannungen oder Schlimmeres in Westeuropa für alle Zeiten auszuschließen — nach sieben Jahren Weltgeschichte, in denen der rasante Zusammenbruch ganzer Staaten das jahrzehntelang Undenkbare über Nacht zur Wirklichkeit werden ließ? Und was wären die Auswirkungen einer solchen Entwicklung auf die inmitten einer katastrophalen Wirtschaftskrise nach Orientierung und neuen Vorbildern suchenden Völker Osteuropas?

Wer sich in Budapest, Prag oder Warschau umhört, dem wird deutlich, wie schon die Existenz der Europäischen Gemeinschaft, wie das Hoffen auf einen späteren Beitritt zum EG-Wohlstandsverbund dort eine Stärkung der demokratischen und nichtnationalistischen Kräfte bewirkt. Wer den Nationalismus als größte Gefahr nicht nur für Osteuropa erkennt, der kann nicht wünschen, daß die Überwindung eines noch immer bedrohlich lebendigen Nationalstaatsdenkens im Westen des Kontinents einen so schweren Rückschlag erleidet, wie das Scheitern der Maastrichter Verträge am „Volkswillen“ es bedeuten könnte. Manche Chancen vergibt die Geschichte nur einmal. Klaus Thoma, Wirtschafts-

journalist in Frankfurt/Main

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