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Demütigung mit Risiko

■ Bei den Wahlen in Estland wurde die russische Minderheit ausgeschlossen

Demütigung mit Risiko Bei den Wahlen in Estland wurde die russische Minderheit ausgeschlossen

Schon zu sowjetischen Zeiten die Esten eine Vorreiterrolle im Reformprozess der Region gespielt. Nicht zuletzt die estnischen Kommunisten verhalfen in den Jahren 1988/89 den Volksfronten in der Sowjetunion zum politischen Durchbruch. Und sie waren es, die in Moskau die offene Diskussion über die Implikationen des Stalin-Hitler-Pakts erzwangen. Sie ebneten mit Verhandlungsgeschick und Flexibilität — anders als die Führungen Lettlands und Litauens — den Weg zu einem verhältnismäßig reibungslosen Übergang in die Unabhängigkeit. Ob Estland aber mit den Wahlen vom Wochenende seine Spitzenreiterfunktion in Sachen Liberalität aufrechterhalten kann, ist fraglich geworden. Zwar liegt mit dem ehemaligen kommunistischen Spitzenfunktionär Arnold Rüütel bei den Präsidentschaftswahlen ein Politiker vorn, der sich in der Perestroika-Zeit persönlich als liberaler Reformer profilieren konnte. Die absolute Mehrheit hat er jedoch verfehlt. So wird nun angesichts der sich abzeichnenden konservativen Mehrheit im Parlament, das den Präsidenten im zweiten Wahlgang zu bestimmen hat, der ehemalige Außenminister Lennert Meri größere Chancen haben. Die kommunistischen Reformer werden auch in Estland, trotz ihrer positiven Rolle beim Übergang, zunehmend für alle Unzulänglichkeiten des damaligen Systems verantwortlich gemacht.

Sicherlich, viele dieser Leute haben Dreck am Stecken. Und manche Verantwortlichkeit für den schleppenden Fortgang beim Umbau der Wirtschaft ist auch in den Niederungen der keineswegs völlig zerschlagenen alten Bürokratie zu suchen. Was das „linke“ vom „rechten“ Lager in Estland jedoch vor allem unterscheidet, ist ihr Verhältnis zu der eingewanderten russischen und ukrainischen Bevölkerung. Denn bei dieser Frage steht mehr auf dem Spiel als nur das Verhältnis zu Minderheiten. An ihr wird sich entscheiden, ob Estland seine Chancen in Europa wahrnehmen kann oder ob das Land zu einem unattraktiven provinziellen Kleinstaat wird.

Mit der Durchsetzung eines Wahlgesetzes, das den größten Teil der Einwanderergesellschaft von der politischen Einflußnahme ausschloß, ist darüber schon eine Vorentscheidung gefallen. Zwar ist ja durchaus einzusehen, daß den Einwanderern die Loyalität zum unabhängigen estnischen Staat und Respekt gegenüber der estnischen Sprache und Kultur abverlangt wird, was früher nicht selbstverständlich war. Doch muß die sich entwickelnde gesellschaftliche Atmosphäre gerade für diejenigen demütigend sein, die sich für die Zukunft des Landes einsetzen wollen. Die Empfindlichkeit der Einwanderungsbevölkerung zu sehr zu strapazieren, birgt zudem erhebliche politische Gefahren in sich. Nicht nur weil großrussische Chauvinisten die russischen Minderheiten außerhalb Rußlands politisch funktionalisieren wollen und das Machtpotential in Rußland immer noch vorhanden ist, auf Estland Druck auszuüben. Auch weil Estland als offene Gesellschaft für Kapitalinvestitionen attraktiver wird. Es ist zu hoffen, daß die nach der Wahl sich bildende konservative Regierung die Weichen für eine neue Vorreiterrolle in diesem Sinne stellen wird. Erich Rathfelder

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