Rechtsruck bei Wahlen in Estland

Parlamentspräsident Rüütel bekommt keine absolute Mehrheit und muß sich nun einem Parlamentsvotum stellen/ Hinter ihm liegt Außenminister Meri, der sich die „Abrechnung mit den Kollaborateuren“ auf die Fahnen geschrieben hat  ■ Von Reinhard Wolff

Stockholm (taz) — Das neu gewählte estnische Parlament wird am 5. Oktober darüber entscheiden müssen, wer in Zukunft Präsident des Landes wird. Keine der KandidatInnen für das Präsidentschaftsamt konnte am vergangenen Sonntag die erforderliche absolute Mehrheit erzielen, als der estnische Bevölkerungsteil des Landes seine Stimme nicht nur für das erste frei gewählte Parlament, sondern auch für das Staatsoberhaupt abgab.

Zwar lag der jetzige Parlamentspräsident Arnold Rüütel mit knapp 43 Prozent der Stimmen deutlich vor seinem schärfsten Herausforderer, dem ehemaligen Außenminister Lennart Meri mit 28,8 Prozent. Im Parlament jedoch stehen angesichts der Parteienkonstellation die Chancen Meris wesentlich besser als nach dem Votum der EstInnen selbst. Denn die Partei Rüütels, die „Kindel Kodu“ (Sicheres Haus), erhielt bei den Parlamentswahlen wesentlich weniger Stimmen als Rüütel selbst und konnte nur 16 der 101 Sitze erringen. Von den übrigen 20 im Parlament vertretenen Parteien, die acht verschiedene Koalitionen gebildet haben, darf er kaum Unterstützung erhoffen. In der Kindel Kodu ist fast die gesamte jetzige Regierung vertreten, aber auch viele Industrielle und ehemalige Kommunisten.

Stärkste Gruppierung wurde der Wahlverband „Isamaa“ (Vaterland) mit 28 Sitzen. Er besteht aus fünf verschiedenen Gruppen des liberalen und nationalistischen Spektrums und hat sich, wie Meri, der Abrechnung mit allen Kollaborateuren des Sowjetsystems verschrieben. Die einzig liberale Gruppierung — Reste der ehemaligen „Volksfront“ von Ex- Ministerpräsidenten Savisaar — brachte es als drittstärkste Gruppierung auf 16 Mandate. Ihr Präsidentschaftskandidat, der in Kalifornien lebende Exileste Professor Rein Taagepera will nun im Parlament verhindern, daß Rüütel sich durchsetzt.

Während die ehemalige KP, die als „Linke Chance“ antrat, keinen einzigen Parlamentssitz gewinnen konnte, konnten die Monarchisten acht Sitze erringen. Prinz Carl Philipp, der 13jährige Sohn des schwedischen Königs, soll Oberhaupt eines Königreichs Estland werden — wenn es nach ihnen geht.

Mit der großen Zustimmung für Rüütel haben die EstInnen für einen Kandidaten gestimmt, der zwar einerseits eine Symbolfigur im Freiheitskampf gegen die Sowjetunion geworden ist, sich andererseits aber als führendes KP-Mitglied immer mit dieser Sowjetmacht zu arrangieren suchte. Bei der abschließenden Fernsehdebatte der vier KandidatInnen hatte er zu seiner KP-Vergangenheit gestanden: Er habe getan, was möglich war und sich ansonsten arrangiert — wie der große Rest der Bevölkerung Estlands eben auch. Sollte Meri aufgrund des Parlamentsvotums im Oktober nun Präsident werden, wird er folgern müssen, daß offenbar nur eine Minderheit der Wahlberechtigten das „große Aufräumen“ für notwendig hält.

Die anstehende Regierungsbildung dürfte nicht einfach werden. Die Vorstellungen zu den Hauptfragen, denen sich die neue Regierung gegenübersieht, gehen stark auseinander: die Wirtschaftsprobleme, die politische Vergangenheit und das Verhältnis zur russischen Minderheit. Diese stellt 38 Prozent der Bevölkerung und hatte, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bei diesen Wahlen kein Stimmrecht.