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Schwedens Wohlfahrtsstaat am Ende

Die wirtschaftliche Krise zwingt Regierung und Opposition zu einem drastischen Sparprogramm  ■ Aus Stockholm Reinhard Wolff

Die schwere Wirtschaftskrise in Schweden läßt Regierung und Opposition enger zusammenrücken. Nach mehrtägigen Verhandlungen, die am Donnerstag angesichts der Krise des Europäischen Währungssystems begonnen hatten, hat die konservative Minderheitsregierung gemeinsam mit der sozialdemokratischen Opposition am Sonntag abend ein Krisenpaket präsentiert, das von beiden Seiten als historisch eingeordnet wird. 28 Milliarden Kronen (rund acht Milliarden Mark) sollen im Haushaltsbudget des kommenden Jahres eingespart werden. Mittelfristig will die Allianz den Spareffekt sogar auf 50 Milliarden Kronen pro Jahr steigern. Für historisch halten viele ExpertInnen das Paket aber vor allem wegen der grundlegenden Eingriffe in das schwedische Sozialstaatssystem: Zwei Drittel der Einsparungen sollen durch ein Zerschneiden des sozialen Netzes erreicht werden.

Ministerpräsident Carl Bildt begründete die Einschnitte in das schwedische Wohlfahrtssystem mit den akuten wirtschaftlichen Problemen seines Landes. „Es ist jetzt keine Zeit für ideologische Gefechte mehr, es gilt, Schweden zu retten“, pflichtet ihm der Oppositionschef Ingvar Carlsson bei. Schwedens Haushaltsdefizit dürfte in diesem Jahr die 100-Milliarden-Kronen-Grenze überschreiten, die Kapitalflucht ins Ausland hält unvermindert an, und die schwedische Währung steht auf den Finanzmärkten weiter unter Druck. Die beispiellose Krise, nämlich die Spekulation in eine Abwertung der schwedischen Krone, dient der Krisenkoalition denn als Rechtfertigung für die Sparmaßnahmen. Dabei geht es der schwedischen Wirtschaft im internationalen Vergleich gar nicht so schlecht, wenn die horrende Staatsverschuldung nicht wäre: Von der zweiprozentigen Inflations- und einer knapp sechsprozentigen Arbeitslosenrate können andere europäischen Länder derzeit nur träumen. Gegen die für schwedische Verhältnisse rekordverdächtige Arbeitslosigkeit glauben die SozialdemokratInnen mit ihrer Zustimmung zum Krisenpaket indirekt das Entscheidende tun zu können: Eine Zinssenkung soll die Investitionsbereitschaft der Wirtschaft wieder fördern. Die schwedische Zentralbank reagierte am Montag prompt: Die Tagesgeld-Zinsen wurden mit sofortiger Wirkung von 500 auf 50 Prozent gesenkt. Am vergangenen Mittwoch hatte die Stockholmer Notenbank den Zinssatz von 24 auf 500 Prozent angehoben, um den weiteren Abfluß von Devisen und Kronen aus dem Land zu verhindern.

Nach dem drastischen Sparpaket wird jede siebte Krone bei den geplanten Staatsausgaben gestrichen. Gespart werden soll in allen Bereichen — von den Kosten für die Aufnahme von Flüchtlingen über den Sozial- und Rüstungsetat bis hin zur Entwicklungshilfe. Der schwedische Grundsatzbeschluß aus dem Jahre 1968, das von der UN propagierte Ziel, ein Prozent des Bruttosozialproduktes hierfür zur Verfügung zu stellen, soll ab sofort nicht mehr gelten. Historisch an dem Übereinkommen zwischen der Regierung und den Sozialdemokraten ist für Schweden, daß damit erstmals seit 1933 über alle Parteigrenzen hinweg wichtige politische Grundsatzentscheidungen gemeinsam getragen werden.

Gesundheitssystem wird völlig umgekrempelt

Besonders hart wird es in Schweden künftig die sozial Schwachen treffen. Das Rentenalter wird um ein Jahr auf 66 Jahre erhöht. Und endgültig vorbei sind die Zeiten, in denen sich die SchwedInnen um ihre Krankenversicherung keine Sorgen machen mußten. Arzt-, Krankenhausbehandlung und Arzneimittel, die bislang über Steuern finanziert und abgesehen von mehr symbolischen Gebühren ansonsten so gut wie kostenlos waren, werden ganz aus der staatlichen Verantwortung ausgegliedert. Eine gesetzliche Kranken- und Unfallversicherung soll bis 1995 an die Stelle des jetzigen Systems treten. Krankwerden dürfte für die Bevölkerung zusätzlich teurer werden, da die Lohnfortzahlung dann erst am zweiten Tag einsetzt und lediglich noch 75 Prozent des Lohns ausmacht. RentnerInnen und KindergeldbezieherInnen müssen auf die vorgesehen Erhöhungen verzichten. Den Streichungen zum Opfer gefallen ist auch der bürgerliche Wahlkampfschlager, die Einführung eines „Betreuungsgeldes“ für Kinder. Das Wohngeld wird kräftig gekürzt, so daß die reale Belastung für MieterInnen mit geringem Einkommen in die Höhe schnellen wird.

Seine Zustimmung zu diesem weitflächigen Sozialabbau hatte sich Oppositionsführer Ingvar Carlsson durch unter dem Strich weit geringere Zugeständnisse der Regierung abhandeln lassen: Auch im Verteidigungshaushalt soll gestrichen werden — die deutsche Rüstungsindustrie wird vergeblich auf den schon sicher geglaubten Leopard-Auftrag warten müssen. Auch auf bereits von der Regierung versprochene Steuersenkungen, auf die sowieso niemand mehr so recht hoffen konnte, wurde nun offiziell verzichtet. Die Privatisierung von Staatsunternehmen wird verzögert und die Auflösung der zu Zeiten der sozialdemokratischen Regierung angesparten Arbeitnehmerfonds wird ausgesetzt. Schließlich gibt es neue Gelder für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen: Mit rund zehn Milliarden Kronen will man 100.000 Arbeitslose zeitweise von der Straße bekommen.

Der Regierung Bildt ist damit das Kunststück gelungen, die Sozialdemokraten offiziell in die Beerdigung des von ihnen seit den dreißiger Jahren aufgebauten Wohlfahrtsstaats einzubinden. Doch der jetzige Oppositionsführer Carlsson hatte als Ministerpräsident vor zwei Jahren allerdings bereits das Grab für das „Schwedische Modell" ausgeschachtet: Angesichts einer damals schon für historisch erachteten Wirtschaftskrise unternahm er erste empfindliche Einschnitte in das Sozialsystem und setzte den entscheidenden Schritt hin zu einer EG-Mitgliedschaft des Landes. Ihren AnhängerInnen versucht die sozialdemokratische Partei den Deal schmackhaft zu machen — mit dem Trost, die Konservativen seien bei der Sanierung der Staatsfinanzen gescheitert, hätten ihnen die Sozialdemokraten nicht im Interesse des Landes so tatkräftig unter die Arme gegriffen.

Mit der Verkündung des Sparpakets, rechtzeitig zum Tag nach Frankreichs Maastricht-Referendum, an dem sich das Schicksal der schwedischen Krone entscheiden dürfte, hoffen beide Seiten auf eine baldige Stabilisierung ihrer Währung. Wenn es nämlich zu dem Lohnverzicht kommen soll, der von den Gewerkschaften erwartet und von diesen auch nicht von vorneherein abgelehnt wird, dann muß der schwedische Normalhaushalt zumindest bei den für viele nicht mehr finanzierbaren Zinskosten entlastet werden. Es hat sich hier aufgrund der Steuergesetzgebung in Schweden immer gelohnt, Schulden zu haben — aber nur solange die Zinsen ein bestimmtes Niveau nicht überstiegen. Doch die Hochzinspolitik hatte den SchuldnerInnen große Sorgen bereitet und viele in den Ruin getrieben. Der Immobilienmarkt ist zusammengebrochen, da die Erlöse nicht einmal mehr die Kredite deckten.

Viel Widerstand gegen das Sparpaket hat sich nicht formieren können angesichts der Eile der PolitikerInnen und der für die SchwedInnen weithin nicht nachvollziehbaren Vorgänge auf den Devisenmärkten. Derweil geben sich die Medien verantwortungsbewußt: Wenn es mit der tapferen Reichsbank und dem Sparpaket gelinge, die jetzige Krise zu überstehen, gehöre Schweden zur europäischen Bundesliga. Die Diskussion über die Folgen der Haushaltskürzungen wird erst einmal auf übermorgen verschoben.

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