: Viereckige Seifenblasen in einer armen Stadt
■ Die Berliner Musical- und Varietelandschaft verändert sich: Andre Heller hat die Nase vorn, sein "Wintergarten" ist eröffnet
„Nicht träumen, Leute!“ brüllt der Supervisor, und seine Augenbrauen ziehen sich strafend zusammen. Der gemaßregelte Knabe in seiner roten Livree zuckt für den Bruchteil einer Sekunde zusammen, fängt sich aber sofort wieder und reißt nun mit einer eleganten Geste den Verschlag des soeben vorgefahrenen dunkelblauen BMW auf. Nonchalant begrüßt er die darin sitzende Dame und beglückwünscht sie zu ihrer Entscheidung, diesen Abend im „Wintergarten“ zu verbringen. Derweil hat ein schwarzgekleideter Boy vom Valet-Parking-Service die Nobellimousine ihres Gatten übernommen und lenkt den Wagen souverän aus dem von unzähligen Glühbirnen erzeugten Lichtkegel des Portals heraus — hinein in den nächtlichen Berliner Stadtverkehr.
Im „Wintergarten“ beginnt die Schau schon beim Entree; hier wird nichts dem Zufall überlassen. Alles ist Teil einer durchkomponierten Unterhaltungsshow, Versatzstück vergangener Varietétradition, Blitzlicht einer alten Sehnsucht dreier erwachsener Kinder. Das so harsch ausgesprochene Traumverbot gilt im Wintergarten natürlich nur für das Personal: für den Jungen in der roten Livree, die ihm eine Nummer zu groß ist, für die beiden Garderobieren mit dem kecken Hütchen auf dem Kopf, für den eleganten Oberkellner und das leichtbeschürzte Zigarettenmädchen, das unermüdlich seinen Bauchladen durch die Tischreihen des Parketts schiebt. Den Wintergartenbesuchern selbst ist das Träumen sehr wohl vergönnt. Wenn es nach den drei neuen Betreibern André Heller, Bernhard Paul und Peter Schwenkow geht, soll das Publikum hier bis in die Jahrtausendwende hinein circensische Luft atmen, den Duft alter Varietégrößen aufsaugen und sich dem Vexierspiel vergangener und neuer Kleinkunstdarbietungen hingeben.
Vor nunmehr vier Jahren stellte der Berliner Konzertveranstalter Peter Schwenkow die ersten Weichen, um sich seinen Kindheitstraum eines eigenen Varietétheaters zu erfüllen. Als noch niemand so recht an einen neuen Kleinkunst-Boom glauben wollte, erwarb er die Namensrechte am legendären „Wintergarten“, um die Jahrhundertwende Berlins renommiertestes Spezialitätentheater. Die Artistenbühne unter dem Dach des Central-Hotels an der Friedrichstraße war bis zu ihrem traurigen Ende im Bombenhagel des Zweiten Weltkrieges über die Grenzen der Stadt hinweg bekannt gewesen — eine Legende von internationalem Ruf. Otto Reutter, Anita Berber, die skandalösen „Five Sisters Barrison“ oder die legendären „Tiller Girls“ feierten unter dem gigantischen blauen Sternenhimmel Erfolg um Erfolg. Hier traf sich die Berliner Hautevolee, und sie fand sich und den Wintergarten „ultraschick“.
Um dem einst so berühmten Namen am Ende dieses Jahrhunderts neuen Glanz zu verleihen, verpflichtete der junge Multimillionär Schwenkow die beiden größenwahnsinnigsten Phantasten, die die deutschsprachige Varietészene derzeit zu bieten hat: André Heller und Bernhard Paul, einst das bestzerstrittene Freundespaar der Szene, fanden angesichts der ungeahnten Möglichkeiten, die ihnen „der großzügige Peter“ bot, schnell wieder zusammen. Neun Millionen Mark blätterte Schwenkow, der demnächst auch das Wiener „Ronacher Varieté“ übernehmen wird, zur Verwirklichung seines Kindheitstraumes hin. Eine stattliche Summe, aber angesichts der zu erwartenden Einspielergebnisse nicht einmal bar jeder Vernunft. Das Triumvirat mietete ein heruntergekommenes Kleinkunsttheater — das Quartier — an, und mit dem Geld des Peter Schwenkow, dem Genie des André Heller und der historischen Circussammlung des Bernhard Paul stampften die drei professionellen Tagträumer inmitten der abgehalfterten Vergnügungsmeile Potsdamer Straße ein kleines, aber ultraschickes Varietétheater aus dem Boden. Tonnen von Messing, Quadratkilometer feinsten roten Samtes und unzählige Vitrinenkästen aus Panzerglas, hinter denen die Glanzstücke der Varietégeschichte vakuumverpackt ihre letzte Heimat gefunden haben, machten aus dem Off-Ort Quartier eine feine Adresse. Ein Ort des Schauens, ein Kleinkunstwerk der Phantasie, ein durchgestylter Traum.
Am vergangenen Wochenende öffnete der neue „Wintergarten“ erstmals seine eleganten Messingpforten. Unter der nach historischem Vorbild rekonstruierten Decke mit den „goldenen Lügen im himmelblauen Nichts“ sahen die sechshundert Gala-Gäste, die für eine Eintrittskarte auf dem Schwarzmarkt bis zu fünftausend Mark gezahlt hatten, eine vollendet durchkomponierte Varietéshow, die vom Schwarzen Theater des sultanischen Verwirrmeisters Omar Pasha bis zu den Maikäfergavotten Jelly Rolls reichte. Man bekam geboten, was immer das Genre auf der kleinen, aber feinen Bühne bieten kann: artistische Glanzleistungen, viereckige Seifenblasen, den clownesken Charme des stummen August David Shiner und Jahrgangs-Champagner zu 280 Mark. Derweil kurvten die Boys mit den dunkelblauen Limousinen durch die Straßen der alten Reichshauptstadt, immer noch auf der Suche nach einem Parkplatz zwischen Peepshowläden und Straßenstrich.
Die reiche Metropole Berlin ist eine arme Stadt. Seit die Mauer gefallen ist, gehört auch der ehemals reiche Westen nun zum armen Osten der ungeteilten Nation. In dieser Stadt fehlt es an allem, nur nicht an Elend und Provinzialität. Fast alle Probleme der Vereinigung zeigen sich hier, wo die polnische Grenze näher als das Rheinland ist, ohne die Camouflage der räumlichen Entfernung. Mit den schicken Metropolen München, Frankfurt, Düsseldorf kann die Hauptstadt nicht mithalten; der Polenstrich, die neue Armut und der Notstand, den vierzig Jahre sozialistische Wirtschaftspolitik hinterlassen haben, bleiben an diesem
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Nase vorn, sein „Wintergarten“ ist eröffnet
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westlichsten Ausleger des vernachlässigten Ostens allgegenwärtig. Ausgerechnet hier wittern die Großen des kommerziellen Unterhaltungsgewerbes nun ihre Jahrhundertchance. Millionensummen werden derzeit in die Zukunft einer Stadt investiert, die bisher nicht einmal eine Gegenwart hat. Der Hamburger Musical-Zar Rolf Deyhle hat von seinem Duzfreund Edzard Reuter ein Theater fast geschenkt bekommen. Im Kellergeschoß des Daimler-Benz-Komplexes am Potsdamer Platz wird er in ein paar Jahren vor 1.800 Berlin- Touristen „Das Phantom der Oper“ spielen lassen.
Friedrich Kurz, ehemaliger Kompagnon und inzwischen Deyhles größter Konkurrent, hat sich nicht nur bis zur Jahrtausendwende in die Boulevardbühne „Theater am Kurfürstendamm“ eingekauft, um dort eine touristenwirksame „Marlene-Dietrich-Revue“ zu inszenieren, sondern soll mittlerweile vom Senat auch den Zuschlag für das traditionsreiche Theater der Freien Volksbühne erhalten. Für die Übernahme des Friedrichstadtpalastes, einst Vorzeigeobjekt des Honeckerstaats, und die Sanierung der Operettenbühne „Metropol“ mittels eines zu verscherbelnden Filetgrundstückes sucht die Stadtverwaltung noch händeringend finanzstarke Großinvestoren, die dem arg gebeutelten Stadtsäckel die Bürde der vielen teuren Subventionstheater abnehmen möchten. Dabei dürften die Bewerber, die meist im Immobiliengeschäft tätig sind und mit der Kunst von Hause aus nicht viel im Sinn haben, nicht allzu gründlich unter die Lupe genommen werden. Hauptsache, sie spielen subventionsfrei.
„Mindestens 10 privatwirtschaftliche Unterhaltungsbühnen“ könne diese Stadt vertragen, ließ Friedrich Kurz unlängst verlauten. Für seine Marlene-Revue, für die bisher noch kein einziges Kostüm genäht, keine Probe gelaufen ist, hat der Kartenverkauf bereits begonnen. Die Reisebusunternehmen aus Paderborn, die ihre Package-Tours nach Berlin gerne mit einem Musical-Besuch versüßen, planen heute schon für die Jahre 1993 und 1994, und wer die Betriebskosten für sein teures Musicalprojekt eintreiben will, muß beizeiten die Werbetrommel in der Provinz rühren. Denn immerhin ist auch ein „Kurz“ nicht billig zu haben: 175 Mark kostet ein Logenplatz am Kurfürstendamm, Champagner inklusive. Da muten die Dumpingpreise des „Wintergartens“ von 30 bis 48 Mark recht zivil an. Vier Produktionen pro Jahr will man den Berlinern unter dem blauen Sternenhimmel bieten, aber die allein werden auch den Wintergarten nicht allabendlich füllen können. Peter Schwenkow setzt auf seine guten Kontakte zur Berliner Wirtschaft. Hier eine Betriebsfeier von Schering, da ein Jubiläum der Borsig-Werke — nur Mercedes-Benz wird seinen Jahresabschluß sicher im eigenen Hause feiern wollen. Wie die Hamburger oder Bochumer müssen sich nun wohl auch die Berliner an jene Reisebusladungen gewöhnen, die sich heute den Ku'damm, morgen Sanssouci anschauen und am Abend ihr kurzweiliges Vergnügen im Wintergarten oder sonstwo haben wollen. Montags gehört die Stadt dann wieder ihren Bewohnern. An den billigeren Tagen dürfen dann auch sie sich den großen Duft der weiten Varietéwelt zwischen Ku'damm und Potsdamer Platz um die arme Nase wehen lassen und die schleichende Veränderung der Berliner Kulturlandschaft beklatschen.
Denn ohne Verluste wird die Invasion der Musical-Millionäre nicht abgehen. Wo jetzt der Wintergarten steht, fehlt den Berlinern das alte Quartier, wo das Metropol heute noch für ein angestammtes Ostpublikum „Maske in Blau“ einstudiert, könnten morgen schon die „Cats“ jaulen. Selbst das hochsubventionierte Theater des Westens, ehedem Berlins glanzvollste Unterhaltungsbühne, könnte künftig in den Strudel des Besucherschwunds geraten, wenn die Besuchs-Wessis die Hauptstadt gleich mit einem Deyhle-Ticket im Koffer bereisen. Ein weiteres Opfer mag die Unterhaltungsinvasion schon bald fordern: das historische Jugendstil-Spiegelzelt der „Bar jeder Vernunft“, in dem der ehemalige Quartier-Leiter Lutz Deisinger und sein Kompagnon Holger Klotzbach in monatlichem Wechsel wunderschöne Varietéprogramme präsentieren, steht bisher noch auf dem Parkplatz der Freien Volksbühne. Dort wird der neue Hausherr Kurz aber schon bald seine Reisebusse parken wollen. So könnte Lutz Deisinger innerhalb kurzer Zeit gleich zwei Varietéstandorte verloren haben. Ja, ist denn diese Stadt wirklich bar jeder Vernunft? Klaudia Brunst
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