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„Europa? Hier noch nie!“

Der Kosovo gleicht einem einzigen Manöverfeld. Gespenstische Städte, erstickte Öffentlichkeit, soziales Elend — und das Warten auf den ersten Schuß  ■ Von Roland Hofwiler

Das Taxi hält. Der Fahrer drängt sich auf. Er fahre über die Grenze, die Reise sei kostenlos. Ein Angebot. Wenngleich es eigentlich die Absicht war, die acht Kilometer zwischen Morin und Zur zu Fuß zurückzulegen. Acht Kilometer auf einer Schotterstraße ohne Verkehr, acht Kilometer auf einem Weg, den die Landkarten als Europa-Straße 752 führen. Enver, der Taxist, lacht: „Europa? Hier war Europa noch nie. Und seitdem die Panzer rollen, ist Europa schon gar nicht mehr in Sicht. Ich sage Ihnen, ein gezielter Schuß genügt, und der Krieg beginnt.“

Morin, das albanische Grenzstädtchen, wirkt unheimlich. Klapprige chinesische Panzerfahrzeuge prägen das Ortsbild. Soldaten heben Schützengräben aus. Sie nennen es Manöver. Die Übung heißt „Serbensturm“. Vier Kilometer weiter Bunker, Grenzbalken, Stacheldraht, Minenfelder und wieder Bunker. In der Ferne Soldaten mit Maschinengewehren im Anschlag. Dann Zur, ein serbisches Garnisonsstädtchen mit mehrheitlich albanischer Bevölkerung: ein einziges großes Feldlager. Serbische Freischärler üben „Freies Kosovo“. Kommandant Bulatovic im Gespräch: „Die Albaner suchen doch den Aufstand, die wollen ein neues Albanien schaffen. Das sollen sie auch, aber ohne unser heiliges Kosovo.“

Enver, der arbeitslose Philosoph, liefert diesen Serben Benzin. Mehrmals im Monat fährt er von „Mutterland-Albanien“ nach „Kosovo-Albanien“. Auf die Frage, ob er sich nicht schuldig fühle, dem Erzfeind trotz international verhängten Handelsembargos Benzin zu liefern, hat der Albaner nur ein müdes Lächeln: „Oh, ihr leichtgläubigen Journalisten! Für einen Liter gibt's bei den Serben acht Mark, das ist ein gutes Geschäft. Übrigens habe ich bei meinen Reisen auch noch etwas anderes im Gepäck“: manchmal eine Pistole, immer Munition und Ersatzteile für Schnellfeuerwaffen. Die hole ein Genosse der „Prizren- Liga“ — so soll sich die albanische Untergrundbewegung nennen — bei der Rückreise „am Straßenrand“ ab. Alles gehe blitzschnell.

Serben und Albaner gehen sich aus dem Weg

Prizren, heimliche Hauptstadt der großalbanischen Träumer, erinnert den Reisenden an das bosnische Mostar. An Mostar vor dem Krieg. In der moslemischen Altstadt entlang des Flüßchens Bistrica prächtige Moscheen, romantische Basar-Buden, Händler von überall, reges Leben in den Cafés und Teehäusern. Bosnische Antikriegslieder laufen vom Band. Ein türkischer Junge bietet Kassetten zum Kauf an. „Wie viele Tote wollt ihr noch, wieviel Zerstörung, wieviel Leid?“ Das Wehklagen der Frauenstimme überzieht den Basar. Eine Polizeistreife nähert sich. Vor einem Schuhputzer bleiben die beiden Serben stehen. Der Junge dreht die Lautsprecher leiser. Die Stiefel werden blankpoliert. Ohne etwas zu bezahlen, ziehen die Polizisten wenig später davon. Die Musik dröhnt erneut über dem hektischen Treiben. Türken, Roma, Bosniaken und vor allem Albaner fühlen sich wieder unter sich. Serben sieht man keine. So gut wie nur immer möglich, gehen die einen den anderen aus dem Weg und umgekehrt.

Vor der Sveta Bogorodica-Ljeviska, der alten orthodoxen Kirche, treffen sich die Serben von Prizren. An der Mauer die Parole „Heiliges Serbien!“ Vater Pavle, ein orthodoxer Mönch, erklärt: „Uns droht der zweite Genozid.“ Die Wunden der Geschichte, als die 1307 unter dem serbischen König Milutin erbaute Kirche durch türkische Truppen in eine Moschee umgewandelt und die einzigartigen Fresken mit Mörtel bedeckt wurden, reißt der Geistliche auf, als sei dies vor wenigen Tagen und nicht vor Jahrhunderten passiert. „Die Albaner rufen zum Heiligen Krieg und trachten danach, uns Serben zu vertreiben.“

Wer kann sich mit diesem „Serbien“ in einer Region identifizieren, in der 90 Prozent der drei Millionen Einwohner Albaner, Bosnier, Roma, Türken und Kroaten sind? Auch die orthodoxe Kirche übernimmt die Sprache der Politik, ein eigenartiges „Neuserbisch“, das für sich spricht. Heute schreiben die Zeitungen nicht mehr von „Albanern“, sondern von „Albanaken“, nicht mehr von einer „kroatischen Minderheit“ in Serbien, sondern von „Ustaschas“. Der Präsident Serbiens, Slobodan Milosevic, der Schriftsteller und Staatspräsident Rumpf-Jugoslawiens, Dobrica Cosic, aber auch Oppositionsführer Vuk Draskovic und andere Geistesgrößen Serbiens haben diese Sprache eingeführt. Wen wundert da, daß die in letzter Zeit neukomponierten „Volkslieder“ noch einen Schritt weiter gehen: „Wer sagt, wer lügt, Serbien ist klein, dem werden wir es zeigen, ins Grab mit ihm hinein.“ Ein Ohrwurm unter vielen, ein Schlachtruf aus der „Volksmusik“-Hitparade.

In den Köpfen der Krieg. In den Herzen die Angst. Vor der orthodoxen Kirche Sveta Bogorodica- Ljeviska stehen Sattelschlepper. Sie transportieren Ikonen und andere sakrale Kunstgegenstände nach Belgrad. Im Konvoi fahren serbische Frauen und Kinder mit. Zurück bleiben die Männer. Sie trainieren an den Waffen. Nach Prizren rollen täglich Panzerkonvois. Auf den Bergen kommen sie in Stellung. Die Kanonen werden nach Albanien gerichtet — als „abschreckende Demonstration“ der Stärke, wird erklärt. Aber ein Schwenk genügt, und die Rohre können Prizren schnell in Schutt und Asche legen.

Pristina, die ehemalige Hauptstadt der autonomen jugoslawischen Provinz Kosovo, wirkt in diesen Herbsttagen gespenstischer als Prizren. In den Hügeln außerhalb der Stadt sind keine Panzer aufgefahren, der Krieg wird in den Straßen vorbereitet. Im Basar ist das Leben gedrückt. Die Preise sind unerschwinglich. Eine einzelne Zitrone kostet zwölf Mark, Zigaretten werden nur stückweise verkauft. Niemand drängelt sich durch den Basar, niemand verweilt dort. In den türkischen Caféhäusern sitzen dagegen Dutzende junge serbische Soldaten gelangweilt herum, immer mit einer Kalaschnikow über den Rücken geschnallt. Sie sprechen mit niemandem, niemand spricht mit ihnen. Todenstille. Keine Musik aus den Lautsprechern. Nur leises Flüstern unter den Kellnern. Für Abwechslung sorgen nur die Streifenwagen, die tagsüber pausenlos durch die Stadt fahren, nachts die Panzer.

Nur in den Morgenstunden spürt man Leben in der Stadt. Wenn ein Kleintransporter mit Lebensmitteln die Straßensperren passiert, zeigen sich die BürgerInnen. Werden dann vor einem Geschäft Brot, Milch, Mehl und Eier abgeladen, bilden sich blitzschnell lange Schlangen. Nur in diesem Augenblick merkt man: In Pristina leben tatsächlich mehr als einhunderttausend Menschen, mehrheitlich AlbanerInnen.

Deren Kinder spielen zur Sicherheit zu Hause. Schulunterricht gibt es seit langem nicht mehr. Als die serbischen Behörden per Dekret im vorletzten Herbst verfügten, ab sofort dürfe in den albanischen Schulen nur noch in serbischer Sprache von serbischen Lehrern unterrichtet werden, da richteten die albanischen Eltern kurzerhand eigene Privatschulen ein. Zwischenfälle mit tödlichem Ausgang waren die Folge. Bei Razzien und „Schulstürmungen“ durch paramilitärische Sondereinheiten der serbischen Polizei ließen einige albanische Lehrer und Schüler ihr Leben. Der pazifistische Widerstand der Albaner drohte schon damals in bürgerkriegsähnliche Gewalt umzuschlagen. In diesem Frühjahr spitzte sich die Situation so zu, daß das im Untergrund tagende „Kosovo- Parlament“, mit dem bekannten albanischen Schriftsteller Ibrahim Rugova als „Präsident der Republik Kosovo“ an der Spitze, kurzerhand beschloß, den privaten Schulunterricht und das „Schuljahr“ vorzeitig abzubrechen.

Zum neuen Schuljahr am 1.September wurde der serbischen Polizei das Recht eingeräumt, „jeden Teilnehmer eines illegalen Schulunterrichtes auf unbestimmte Zeit festzunehmen“. Mit anderen Worten: auch Knast für Kinder. Eine massive Armeepräsenz vor Schulgebäuden war ein weiteres deutliches Zeichen. Ibrahim Rugova: „Serbien setzt auf Provokation, Landsleute, bleibt ruhig, wartet mit dem Schulgang bis zum 15. September ab.“ Die Menschen hörten auf ihre uneingeschränkte Autorität. Denn Rugova hatte in der Zwischenzeit mit dem neuen Premier Rumpf-Jugoslawiens, Milan Panic, verhandelt. Der versicherte, er werde den Schulunterricht der albanischen Kinder „nicht behindern lassen“.

„Ein Schuß genügt, und der Krieg beginnt“

Große Worte, keine Taten. Während Panic, der amerikanische Geschäftsmann, durch die Welt tourt und allen Seiten beteuert, man müsse ihm nur noch etwas Zeit lassen, dann werde ihm auch noch gelingen, die serbischen Truppen aus Bosnien abzuziehen, eskaliert der Konflikt im Kosovo. Dutzende Blätter, von denen niemand weiß, stecken dahinter nun serbische Provokateure oder radikale Albanerkreise, rufen bereits zum „bewaffneten Kampf“ auf.

Rugova und sein Untergrundparlament können dem nur wenig entgegensetzen. Es gibt keine albanischsprachige Presse mehr, kein Fernsehen, kein Radio, keine Möglichkeit zur öffentlichen Diskussion. Zur politischen Repression gesellt sich das soziale Elend. Vier von fünf AlbanerInnen sind arbeitslos, aus wirtschaftlichen wie politischen Gründen. In den Krankenhäusern behandeln serbische Ärzte nur in Ausnahmefällen albanische Patienten, das ist ein offenes Geheimnis. Dagegen hat man 2.000 albanische Ärzte wegen „politischer Agitation“ in den letzten beiden Jahren gefeuert. Kindergärten und Schulen sind geschlossen. Lebensmittel unerschwinglich, Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe wird nicht bezahlt. Niemand weiß, wie man über den Winter kommen soll, ohne Brennmaterial und bei den ständigen Stromabschaltungen, die bereits vielerorts zum Alltag gehören. Dafür sieht man, wohin man schaut: Soldaten, Panzer, Straßensperren, Freischärler, Geschütze — Kosovo als ein großes Manöverfeld. Dazu das Wissen, die Gewißheit, die jeder, ob Albaner oder Serbe, ausspricht, ein Satz, der schon am Grenzbalken nach Kosovo fiel: „Ein gezielter Schuß genügt, und der Krieg beginnt.“

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