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Flucht vor der ganz normalen Produktion

■ Umweltflüchtlinge fliehen zunächst in Nachbarländer/ Rotes Kreuz rechnet mit bis zu einer Milliarde Ökoflüchtlinge zur Jahrtausendwende — nicht in Europa

Frankfurt/Main (taz) — Am Anfang war die Beruhigung: Norbert von Nieding sieht keine Welle von Umweltflüchtlingen auf Deutschland zurollen. „Für die Bundesrepublik spielen Ökoflüchtlinge bisher keine große Rolle“, ist die Erfahrung des kürzlich zurückgetretenen Leiters der Zentralen Aufnahmestelle für Asylsuchende in Zirndorf. Selbst nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl seien die gefährdeten Menschen nicht sehr weit geflüchtet, so Nieding in der vergangenen Woche auf dem Deutschen Umwelttag in Frankfurt.

Bei Katastrophen würden sich die Menschen zunächst in die Nachbarländer begeben — und dort neue Umweltprobleme verursachen: Rund um die riesigen, spärlich ausgestatteten Lager werde der Wald abgeholzt, versiegten die Brunnen.

Die deutsche Angst vor einer Flüchtlingsschwemme sei im Vergleich mit den Ländern, in die tatsächlich die meisten Menschen fliehen, völlig unangebracht, schimpfte bei der Diskussion um Ökoflüchtlinge auch Peter Mucke, Umweltbeauftragter von terre des hommes. Ohnehin würden nur rund fünf Prozent der weltweiten Flüchtlinge den Weg nach Europa finden.

Bevor die Umweltflüchtlinge aber als aufgeblasener Popanz aus der Diskussion verschwinden konnten, erinnerte die Vordenkerin der Grünen, Antje Vollmer, daran, daß der Begriff des Umweltflüchtlings sehr viel weiter gefaßt werden muß, als das zum Beispiel das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) gemeinhin tut. Während das UNHCR weltweit rund 18 Millionen politische und Hunger-Flüchtlinge unter seine Fittiche nimmt, Umweltflüchtlinge im internationalen Recht aber gar nicht kennt, prophezeie das Internationale Rote Kreuz für die Jahrtausendwende weltweit eine Milliarde Umweltflüchtlinge, so Vollmer. Peter Mucke von terre des hommes machte auf den Versuch der Umweltorganistation der Vereinten Nationen, UNEP, aufmerksam, die Staatengemeinschaft für das Phänomen Umweltflüchtlinge zu sensibilisieren. UNEP bezeichnet alle Menschen, „die gezwungen werden, ihre traditionelle Umgebung zu verlassen, weil Umweltschäden ihr Leben oder ihre Lebensweise in Gefahr bringen“, als Umweltflüchtlinge.

Woran sich die provozierende Frage anschließt, ob denn die Vertriebenen des deutschen Braunkohlebergbaus in der Lausitz oder im Rheinland auch als Umweltflüchtlinge zu gelten hätten? Antje Vollmer würde das offensichtlich bejahen.

Genau wie Umweltzerstörung die Folge der ganz normalen Produktion sei, sei „Flucht nur die dunkle Seite der absoluten Mobilität“, die moderne Industriegesellschaften von ihren Menschen verlangten. Wenn die Probleme der Mobilität nicht mehr durch traditionelle Werte und familiäre soziale Netze aufgefangen würden, stünden die Menschen eben auf der Straße.

„Umweltflüchtlinge sind auch Chaosflüchtlinge“, folgerte Vollmer. Und wer die Zunahme bei der Menge der Flüchtenden verhindern wolle, brauche wohl oder übel eine „Anti-Chaos-Strategie“. Dabei geht es nicht ums Asylrecht oder um die Genfer Flüchtlingskonvention. „Sie können die Genfer Flüchtlingskonvention anwenden und 80 Prozent der somalischen Flüchtlinge anerkennen wie in Frankreich oder wie in der Bundesrepublik eine Anerkennungsquote haben, die gegen null geht“, so Stefan Telöken, Sprecher der UNHCR in Bonn.

„Das A und O ist die Hilfe vor Ort“, hat der Flüchtlingsbeamte Nieding erkannt. Antje Vollmer hat diesen Satz in der Debatte noch zugespitzt: „Die richtige Debatte um die Umweltflüchtlinge ist die Debatte um eine gerechte Weltwirtschaftsordnung.“ Hermann-Josef Tenhagen

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