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Ein Boulevard der Gewalt

■ Die „Inszenierung eines Kusses“ von Oliver Bukowski in Potsdam uraufgeführt

Der junge Ostberliner Oliver Bukowski hat ein halbes Dutzend Theaterstücke verfaßt. Mehrfach gespielt in Ost und West wurde bereits seine „Halbwertzeit für Kanarienvögel“, mit der Uraufführung der „Inszenierung eines Kusses“ hat nun am Wochenende das Potsdamer Hans Otto-Theater seine neue Studiobühne eröffnet. Die Geschichte eines ermüdeten, lieblos gewordenen Paars, worin Conrad mit Hilfe dreier gewalttätiger Stadtstreicher Lisas Geburtstag zu einem ausartenden Lustspiel arrangiert, geht in zwei Bildern über die Bühne. Die Eheleute gewinnen die Stadtstreicher im Wechsel für sich und führen sie gegen den anderen ins Feld. Am Ende, nachdem Conrad die Treppe hinuntergeworfen wurde, rastet Lisa derart ins Orgiastische aus, daß die Stadtstreicher Angst bekommen, ihr ein Kissen ins Gesicht drücken, bis sie ohnmächtig wird. „Volles Rohr Notwehr war das“, bestätigen sie sich leicht beschämt. Conrad kommt zurück, weckt Lisa aus ihrer Ohnmacht.

Das Stück ist dem Boulevard nahe und doch fern. Einerseits geht alles gut aus. Der Geburtstag war noch nie so großartig, Lisa kann Conrad beseligt küssen wie lange nicht mehr. Andererseits bleiben die Schatten des etablierten Lebens unauflöslich erhalten: Die Anstrengungen im Dienste großer Ziele haben einen ausgebrannt. Sehr früh macht das Erreichte doch nicht glücklich. „Ich bin jung“, ruft die dreiunddreißigjährige Lisa einmal aus, „ich habe noch alles vor mir!“ Dann erschrickt sie über ihre Worte: „Mein Gott, ich habe ja noch alles vor mir!“ Das treibt zu extremem Kitzeln.

Bukowski hebt in einer Einleitungsszene mit den Stadtstreichern das Gewaltpotential auf große Höhe, bevor es im Wohnzimmer des Paars niedergehen darf. Die Stadtstreicher, die auf einem Satteldach (Ausstattung: Gerhard Ziegler) das Naturschauspiel einer Sonnenfinsternis erwarten und sich die Zeit mit einer Leistungsschau vertreiben, sind eine feste, Wärme ausstrahlende Gemeinschaft. Die Gewalt, die sie sich und anderen gelegentlich antun, erschreckt, stößt aber nicht ab. Sie erzählen sich bloß die Schläge, die sie im Leben erhielten. Gert Steiger als Astronomieprofessor hat sich die trockene Begeisterung und die kindliche Neugier an den Weltphänomenen bewahrt. Bewegte Anteilnahme an Personen und Dingen ist ihm geblieben, doch die Härte des Lebens, die ihm zuteil wurde, sieht er schmunzelnd auch anderen widerfahren. Dem Dichter ist alles Anlaß zu Pathetik, die vergrößert und belebt. Mit bewußt gekünstelter, routinierter Gestik läßt Dietmar Nieder die literarischen Hohlheiten erkennen. Mit kaltem Jähzorn und eifersüchtig auf die geistige Gewandtheit seiner Freunde, duckt sie Olaf Weißberg als Prolet in Skin-Aufmachung mit Körpergewalt. Da hat er seine Intelligenz investiert. Er handhabt sie spielend.

Die drei haben sich durchwegs viel zu zeigen, sind immer interessant, sind sympathische gestürzte Engel. Das Drama im Wohnzimmer zeigt demgegenüber deutliche Schwächen. Bukowski reiht Zitate aus dem bürgerlichen Alltag aneinander ohne Vertiefungsanstrengungen. Conrad und Lisa können einem Gespräch nichts mehr abgewinnen, er rückt ihr gewaltsam auf den Leib, das läßt sie unberührt. Erst als er Hund spielen muß, gerät sie in Erregung. Insgesamt hat Ruth Claire Lederle nicht allzu viel Gewicht zu heben, und so bleibt es beim zugespitzten Chargieren einer Femme fatale. Beispielsweise stürzt sie sich auf ihre Platten mit dem Schrei: Ich liebe Rachmaninow. Als nach kurzem Freudentaumel die Musik verbraucht ist, flucht sie: Ich hasse Rachmaninow. Viel Leidenschaft garniert um wenig Stoff, da kann nicht viel werden. Conrad, fast ohne Entwicklung in einer Statistenrolle, kann Werner Kuske auch nur ledern, kühl und stoisch halten.

Einige sagen, das hübsche Einzelgebäude der Studiobühne in einem früheren Militärkomplex sei ein Krankenhaus gewesen, andere, eine Leichenhalle. Sofern ein Geist des Hauses nach der kompletten Renovierung noch anwesend sein sollte, blieb er am Ende der Inszenierung doch freundlich. Holger Schultze konzentrierte sich textnah auf eine Überprüfung des Stückes für die Bühne. Der Reiz, den das Ganze insgesamt hat, entsteht aus der rückhaltlosen Drastik, mit der alle Bewegung inszeniert ist, die aber reine Theaterkunst bleibt. Niemand soll überzeugt werden, daß er aufs Leben schaut. Auf Blut wird verzichtet. So entsteht ein volkstümliches Theater der Schauspieler. Ein Höhepunkt ist das Bad der Stadtstreicher, die man in ihrer Nacktheit bewundern kann. Die durchaus attraktive Lederle zeigt nicht billig Fleisch. Auf dem Höhepunkt der Orgie zieht sie sich zwar den Slip herunter, aber man sieht nichts. Wozu auch. Berthold Rünger

Nächste Aufführungen: 30.9. und 4.10.

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