: »Sonst könnte man sich umbringen«
■ Das Kino im Tränenpalast wird morgen mit einem Skinhead-Film eröffnet
Geheult wird im ehemaligen DDR-Ausreisepavillon direkt neben dem Bahnhof Friedrichstraße zwar schon lange nicht mehr, »Tränenpalast« heißt er jedoch nach wie vor. Seit Ende letzten Jahres dümpelt die historische Glashalle als kultureller Gemischtwarenladen ohne rechtes Profil vor sich hin. Genau das soll sich jetzt ändern.
Die rührigen Filmenthusiasten vom Sputnik-Kino funktionieren ab morgen — zumindest teilwiese — den Tränen- zum Filmpalast um. Zur Eröffnung gibt es ein australisches Überraschungsbonbon, das laut »Internationaler Filmkritik« der beste Skinhead-Film sein soll. Er bildet den Auftakt zu einer sechsteiligen Reihe. Die inhaltliche Marschrichtung am geschichtsträchtigen Ort ist mit diesem Start schon angedeutet.
Weiter geht es mit der »Glatzkopfbande«, einer DDR-Rarität von 1963. Mit Randale und Motorradlärm terrorisiert eine Mopedgang brave werktätige Urlauber am Ostseestrand. Natürlich ist die Rowdy-Story mit einem dicken sozialistischen Zeigefinger versetzt. Die reisende Horror-Baubrigade ist von vornherein liederlich, der Anführer ein Ex-Knacki mit West- Ambitionen. Schon in der ersten Szene stürzt eine von den arbeitsscheuen Kumpanen hingepfuschte Halle ein und tötet zwei Unschuldige.
Sieht man über miefigen Fifties- Trash und gesellschaftlichen Erziehungsanspruch hinweg, bleibt ein erstaunlich aktuelles Portrait über Gruppenmechanismen. Indem sich alle Glatzen scheren lassen, gibt sich die Gang ein weithin sichtbares Zugehörigkeitsmerkmal. Die Kids finden Solidarität und Geborgenheit in der verschworenen Gemeinschaft. Ihre Schwäche und Orientierungslosigkeit überdecken die anführerhörigen Motorradmannen durch laute Sprüche und Brutalität gegenüber Schwächeren. Rostock liegt da gar nicht so fern.
Eine bittere Bestandsaufnahme der Jugend eines vor die Hunde gekommenen Staates gibt der erste und einzige DDR-Dokumentarfilm über Skins »Unsere Kinder« (1989). Den Autoren geht es allerdings nur bedingt darum, die Denkstrukturen der entwurzelten Kids zu zeigen. Sie mischen Grufties, Skins und Punks in einen Protest-Topf. Wichtiger ist ihnen die Frage nach den Gründen der Verweigerung. Auch hier fällt immer wieder auf, daß Freundschaft und Zusammenhalt hinter allen Parolen die wichtigeren Motive sind. »Irgendwie muß man sich ja vor sich selbst rechtfertigen«, sagt ein kurzgeschorener Siebzehnjähriger im Gespräch mit Christa Wolf, »sonst könnte man sich umbringen.« »Unsere Kinder« widerlegt die Behauptung, der Rechtsradikalismus sei erst nach der Wende entstanden.
Die Pop-Ska und Oi-Musikbewegung im England der beginnenden Achtziger belichtet »Dance Craze« (1981), der zusammen mit dem eher spröden »Business with Friends« gezeigt wird. Hier muß ein tougher Londoner Hardcoreskin mit polnischem Namen erkennen, daß er in Berlin trotz rechter Gesinnung bei seinen Mitkämpfern auch nur als Kanake gilt. Sensibler beschreibt der britische Unterschichtschronist Mike Leigh den tristen Alltag einer arbeitslosen Familie. Leise, manchmal komisch und nie denunzierend zeigt er die kleinen, unspektakulären Ereignisse, die dazu führen, daß sich der Sohn zum Glatzkopf wandelt. Neben weiteren thematischen Reihen — hier steht bisher eine sonntäglich vorabendliche Serie mit Berlinfilmen (jeweils 18.15 Uhr) fest, sollen hauptsächlich Kult- und Stummfilmreihen gezeigt werden. Jim Jarmusch macht den Anfang, abwechselnd mit stillen Klassikern wie »Nosferatu« und »Metropolis«, begleitet von einem echten Klavierspieler. Während der Vorführung haben die beiden Bars geöffnet. Im 300 Plätze großen Kino mit Grenzabfertigungs-Charme darf getrunken, gegessen und geraucht werden. Gerd Hartmann
Filmstarts: siehe Programmteil
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