piwik no script img

Vom Suchen und Verschwinden

■ „Shalamuns Papiere“ von Christoph Meckel

Ein Mann bezahlt eine Nutte, damit sie eine Zeitlang sein Leben teilt. Sie aber verliebt sich in ihn, gibt ihm das Geld zurück und bricht den Vertrag. Aus „Jean-der- Spieler“ wird „Jean-hau-ab“, der Babylon City verläßt: Offenbar gibt es für ihn keine andere Möglichkeit, der Liebe zu entkommen.

So endete „die Messingstadt“, der erste Teil eines work in progress, eines corps de ballet. Meckel spinnt im vorliegenden zweiten Teil nun das Garn weiter und zu Ende. Shalamun, „ein Herr im Nadelöhr und im Passepartout“, ein Mensch, „der in Zwischenräumen zu existieren scheint, in Absteigen oder Luxushotels verschwindet, hinter Kellerwänden und Drehtüren etwas macht und aus Hinterklappen wieder zum Vorschein kommt“, dieser Shalamun ist verschwunden — und ein Roman beginnt. Es stellt sich heraus, daß er getötet werden soll. Doch von wem, warum und wann? „Jemand, der getötet hat, weiß, daß er jederzeit getötet werden kann“, notiert er in seinen Papieren. Shalamun — ein Mörder? Und wer ist sein Verfolger?

Shalamuns Verschwinden stößt auf Interesse. Es gibt wider Erwarten — Babylon City ist das Paradies der Untergetauchten, für die niemand einen Pfifferling geben würde — Menschen, die seine Abwesenheit bedauern. Zu ihnen gehören Serge Moore, „der einzige, der ihn kennt, weil er seine Papiere gelesen hat“, Marcel Garda, der Regisseur, sowie Boby Carvantes, der Geschichtenerzähler. Und natürlich die Frauen, Stella Farni, seine Geliebte für einen Winter, Nessel und Diestel, zwei Verführerinnen mit sprechenden Namen: Licht- und Schattengestalten in Babylon City, die alle ihre eigenen Welten erfinden und in rätselhaften Beziehungen zu allen anderen stehen. Aus den unterschiedlichen Perspektiven der Romanfiguren ergibt sich schließlich ein unscharfes Bild Shalamuns, ohne Konturen, alles bleibt diffus und rätselhaft.

Mit Absicht. Worauf es Meckel in „Shalamuns Papiere“ ankommt, ist die Darstellung von komplizierten Beziehungsverflechtungen zwischen Großstadtbewohnern. Es gibt keinen Helden im alten Sinne mehr. Wer immer Shalamun sein mag, Frauenheld, Mörder, Prophet, Clochard — Meckel interessiert das Rätselhafte seines Charakters, das Flüchtige seiner Existenz, „zwanzig Jahre Verschwinden und Untertauchen oder zwanzig Jahre sichtbar an einem Ort, beide Leben machen unbekannt“. Je näher man Shalamun kommt oder zu kommen glaubt, desto undurchsichtiger wird seine Erscheinung: Er spricht Polnisch und perfekt Französisch, er liest Ausonius und interessiert sich für Puschkin, kennt Gott und die Welt, ist Prinz auf der Erbse, Meistercharmeur gezinkter Sätze und Beherrscher der Camouflage.

Meckel gelingt es, vom Verschwinden zu reden und den Leser gleichzeitig zum Suchenden zu machen. Er wird hineingezogen in die Bewegung des Romans und nimmt als Lesender selbst an dessen Produktion teil, ist er doch der Aufklärer, der Licht in das Dunkel bringen muß, um dem Ganzen seinen Sinn zu geben. Allerdings: Ein Leser der alten Schule muß man sein. Denn zum Dechiffrieren des Vexierbildes gehört Muße: Schon die Gattungsbezeichnung „Roman“, die so einladend auf dem Titelblatt prangt, ist keineswegs so eindeutig, wie sie vorgibt. Es mischen sich Aufzeichnungen und Adreßbücher, Tagebuch und Treatment, Literaturgeschichte und Lyrik, Brief und Billett.

Der Inhalt des „Romans“ ist gleichzeitig seine Form: „Wenn auch im Nebel nicht viel zu erkennen ist, so hat man doch das selige Gefühl, in die einzig mögliche Richtung zu sehen.“ Hier formuliert Meckel seine Poetologie des Verwirrspiels. Denn was für die Rätselhaftigkeit der menschlichen Beziehungen gilt, gilt eigentlich auch für die Beziehung zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Romanwerks. Erst am Ende, nach mehrmaligem Lesen also, stellt sich ein Zusammenhang her zwischen den einzelnen Kapiteln der „Messingstadt“ und „Shalamuns Papieren“. Als Erzähler der „Messingstadt“ und als Erfinder von „Jean-hau-ab“ gibt sich Boby Cervantes zu erkennen: „Ich erzähle von Männern und Frauen in Babylon City, von den Geistern der Messingstadt. Es ist, wo wir sind, von Leuten da drin, die ich kenne und die ich erfinde.“

Endlich weiß man, daß Gabriella Saba, die Hure aus der „Messingstadt“, und Stella Farni identische Personen sind, man ahnt die Bedeutung von Marcel Garda und die der Frauen Nessel und Diestel: Ein Erzähler spielt mit seinen Figuren, der Zeichner Meckel stellt seine Figuren vor, schwarz auf weiß: Ein Mann ist auf der Flucht vor der Liebe. Ob sie gelingt, weiß keiner besser als er selbst. Regina Dyck

Christoph Meckel: „Shalamuns Papiere“. Hanser Verlag, 184 Seiten, 34 DM.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen