Bauchschreiber des Volkes

Literatur aus Mosambik — erstmals auch auf deutsch  ■ Von Cristina Krippahl

Über die Literatur eines Landes zu schreiben, in dem seit siebzehn Jahren ein Bürgerkrieg tobt, sechsjährige Kinder gekidnappt und zu Soldaten gemacht werden, wo die Dürre für noch mehr Tote sorgt, mag manch einem zumindest seltsam vorkommen. Es ist wie mit dem Gespräch über Bäume bei Brecht: Gäbe es nicht viel Wichtigeres zu berichten? Von Korruption auf Regierungsebene zum Beispiel, von verschwundenen Hilfsgütern aus dem Westen, von den üblen Machenschaften der Kriegsprofiteure oder dem unerträglichen Leid der Zivilbevölkerung?

Aber all dies und noch viel mehr steht ja in den Büchern mosambikanischer Autoren. Sie schreiben, beschreiben, erklären und klagen an, aber kaum einer liest sie. Bis vor kurzem waren sie hierzulande noch nicht einmal übersetzt. Es ist so viel einfacher, in den Berichten der Medien über die Zustände in jenem fernen Land eigene Vorurteile bestätigt zu finden, als zu versuchen, die Situation zu verstehen und sich mit ihr auseinanderzusetzen. Das kostet nämlich Zeit und Mühe sowie die Bereitschaft anzuerkennen, daß ein Land, sei es noch so arm und den entsetzlichsten Umständen ausgesetzt, weit mehr zu bieten hat als die für uns ausgesuchten Horrorbilder der Eineinhalb-Minuten-Beiträge allabendlicher Nachrichtensendungen.

Vor wenigen Monaten hat der Dipa Verlag eine Anthologie mosambikanischer Kurzgeschichten herausgegeben. Unter dem Titel „Die Liebe aller Tage“ wurden von Elisa Fuchs und Elsa Fuchs de Melo ausgewählte und übersetzte Geschichten veröffentlicht, überwiegend von mosambikanischen Autoren und Autorinnen der jüngeren Generation. Es handelt sich tatsächlich um die erste Herausgabe von mosambikanischer Literatur in deutscher Sprache.

Das ist um so verwunderlicher angesichts der langjährigen literarischen Tradition des Landes, die besonders von der portugiesischen Literatur beeinflußt wurde. Nur die allerjüngste Generation benutzt in ihrem Werk literarische Elemente aus Afrika, wie etwa die in die Schrift aufgenommenen Formen der oralen Wiedergabe. Diese Techniken werden von vielen Lesern in Deutschland als zu anstrengend empfunden, und die meisten mosambikanischen Autoren und Autorinnen trauen sich noch nicht, mit den ungewohnten Formen zu experimentieren.

Ihre Verwurzelung in literarischen Traditionen des Westens ist ein unmittelbares Ergebnis der portugiesischen Kolonialpolitik in Mosambik, die erst vor 17 Jahren ein Ende fand. Um eine afrikanische Kleinbourgeoisie heranzuziehen, die mit den untergeordneten Aufgaben in der Verwaltung und später in der Industrie betraut werden konnte, förderten die Portugiesen ab der Jahrhundertwende die Assimilation. Schwarze, die das Lesen und Schreiben der portugiesischen Sprache erlernten und allen „primitiven“ Aspekten des Lebens als afrikanische Menschen entsagten, erwarben dann auch rechtlich den Status von Portugiesen. Die gesamte Erziehungsstruktur in den portugiesischen Kolonien zielte nicht darauf ab, den Menschen Stolz und Selbstwertgefühl zu vermitteln, sondern ihnen einzubleuen, immer demütig auf die europäische Überlegenheit heraufzublicken. Es entstand der Mythos, eine westliche Erziehung würde Afrikanern die Türen zu derselben ökonomischen, sozialen und politischen Macht öffnen, über die die Europäer verfügten.

Die „Assimilierten“ merkten sehr schnell, daß die Hoffnung trog. Sie waren zwar keine Afrikaner mehr, aber sie würden niemals Europäer sein. Dieser Zwiespalt war der Auslöser einer schriftstellerischen Aktivität in den dreißiger Jahren, deren Forum vor allem literarische Zeitschriften waren — und deren Form vorwiegend das Gedicht. Einer der Autoren war der früh verstorbene Ruy de Noronha, dessen Werk erst nach seinem Tode in Buchform erschien. Seine Gedichte weisen ganz eindeutig auf das Dilemma des „Assimilierten“ hin. Ihre Übersetzung wäre unter diesem Gesichtspunkt auch für Historiker und Anthropologen von großem Interesse. Denn Noronha war sicher nicht der einzige, den die Verzweiflung über die Identitätslosigkeit zum Alkohol und schließlich in den Tod trieb.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, der die Befreiungsbestrebungen auf dem gesamten afrikanischen Kontinent dynamisierte, widmeten sich mosambikanische Dichter und Prosaautoren wie Noémia de Sousa, Orlando Mendes und Joao Dias offen den neuen Konzepten des Afrikanismus und der „Négritude“. Der heute 70jährige José Craveirinha, der im gesamten portugiesischsprechenden Raum großes Ansehen genießt, zeigte mit seinen engagierten und antikolonialistischen Büchern jüngeren Kollegen den Weg, Literatur als Waffe im Befreiungskampf einzusetzen.

Das Ergebnis dieser Radikalisierung: Craveirinha landete 1965 umgehend in den Kerkern der portugiesischen Geheimpolizei PIDE. Mit ihm wurden auch zahlreiche andere Intellektuelle eingesperrt und gefoltert, unter ihnen der Maler Malangatana Valente Ngwenya und der spätere Kultusminister Luis Bernardo Honwana. Dessen Buch „Wir töteten den räudigen Hund und andere Kurzgeschichten“, das in eindringlicher Weise das Leiden der Mosambikaner unter der Kolonialherrschaft schildert und zum Widerstand aufruft, war das letzte nicht herrschaftskonforme Buch, das in der Kolonie erscheinen durfte.

Inzwischen, 1962, war jedoch die Befreiungsbewegung FRELIMO gegründet worden. Der bewaffnete Kampf begann zwei Jahre später und dauerte bis 1974. In den befreiten Gebieten wurden die Dichtungen von Freiheitskämpfern gedruckt, vorgetragen und vorgesungen. Sie hatten sich der Sprache des Kolonialherren bemächtigt, um sie erfolgreich als Waffe gegen ihn zu wenden. Die so entstandenen Dichtungen von Sérgio Viera und Rui Nogar etwa bedienen sich einfacher literarischer Strukturen, um allen den Zugang zu ihren Gedichten zu ermöglichen. Vorwiegend wurde auf portugiesisch geschrieben, denn auch nach dem Willen der Befreiungskämpfer sollte die Sprache des Kolonialherrn eine grundlegende Rolle bei der Errichtung einer einheitlichen mosambikanischen Nation spielen — ein verständlicher Wunsch, wenn man bedenkt, daß in Mosambik über hundert verschiedene Sprachen und Dialekte gesprochen werden.

Nach der Unabhängigkeit wurde — in einer ersten Phase der Euphorie und des Nationbuilding— ausschließlich Prosa und Dichtung publiziert, die sich mit der traurigen kolonialen Vergangenheit oder der glorreichen sozialistischen Zukunft beschäftigte. Keine politische Versammlung — und derer gab es unzählige — verlief ohne das Vortragen von Gedichten. So wurde einem Volk, das zum Zeitpunkt der Befreiung eine Analphabetenquote von 90 Prozent aufwies, das Werk seiner Dichter in mündlicher Form zurückgegeben — entsprechend der historischen Tradition der oralen Literatur und Überlieferung, die sowohl während der Kolonialzeit als auch nach der durchgesetzten Unabhängigkeit von Wissenschaftlern und Intellektuellen stiefmütterlich behandelt wurde und wird.

Die wahre, auch sprachliche Rückbesinnung auf afrikanische Wurzeln erfolgte erst in den letzten zehn Jahren, bezeichnenderweise seit der Gründung des mosambikanischen Schriftstellervereins, der die Literatur des Landes erstaunlich dynamisierte und auch der neuen und sehr jungen Generation von Schriftstellern die Möglichkeit gab, das Wort zu ergreifen. Die Jungen haben den Befreiungskrieg nicht mitgemacht, also schreiben sie über das, was sie kennen: das heutige Leben in Mosambik, den Bürgerkrieg, den — oft vergeblichen — Kampf um das Überleben, aber auch über die alltäglichen Sorgen und Freuden.

Jemand wie der in der Bundesrepublik noch weitgehend unbekannte Autor Mia Couto behauptet von sich, der „Bauchschreiber“ des mosambikanischen Volkes zu sein. „Ein ganzes Volk, das schafft und träumt“ will er erzählen, und dazu hat er eine neue Sprache erfunden. Er hat sich nicht damit begnügt, die Sprache der ehemaligen Kolonialherrscher zu instrumentalisieren. Mia Couto hat sie angereichert durch afrikanische Ausdrücke, Grammatik und Wortschatz. Wo selbst diese seinen Absichten nicht gerecht werden, erfindet er eigene Worte und Grammatikregeln, die seine Prosa sehr in die Nähe der Dichtung rücken. Möglich ist das nur, weil der Autor die portugiesische Sprache genauso perfekt beherrscht wie zu seiner Zeit der Simbabwer Dambudzo Marechera die englische. Es ist Mia Couto und den deutschen Lesern schnellstens ein kongenialer Übersetzer zu wünschen.

Die jetzt vorliegende Anthologie mosambikanischer Kurzgeschichten ist ein repräsentativer Querschnitt der Arbeit von Autoren der jungen Generation. Auffallend ist, wie häufig die Kinder das zentrale Thema dieser Erzählungen sind. Sie sind Opfer des Bürgerkrieges und des Egoismus der Erwachsenen, wie in Mia Coutos „Der Tag an dem Mabata-bata explodierte“. Die Kinder sind zugleich aber auch Täter. Calane da Silva beschreibt in seiner Kurzgeschichte „Ist der Teufel etwa ein Kind?“ einen Überfall aus der Sicht einer jungen Frau: „Aufrecht, schwarz und glänzend wie der Asphalt, auf dem er stand, fuhr der kleine Terrorist fort, kalt und teuflisch ständig neue tödliche Salven zu verschießen... Es war tatsächlich ein Kind, kaum älter als die kleinen Viehhirten der Umgebung. Welche Kräfte des Bösen haben aus dem Kopf dieses Kindes alles, was gut war, herausgerissen?“

Die „Kräfte des Bösen“ sind in diesem Fall bekannt: eine der Praktiken der Rebellenorganisation RENAMO ist die Verschleppung von kleinen Kindern, die zum Kampf gezwungen werden. Viele dieser Kinder mußten mitansehen, wie ihre Eltern und Geschwister vergewaltigt und ermordet wurden. Einige wurden gezwungen, die eigenen Eltern umzubringen. Mitten in der Gewalt aufgewachsen, kennen sie heute nur das Gesetz der Waffen. Sie rauben, morden und plündern, und selbst die RENAMO hat längst die Kontrolle über diese Banden verloren.

Das Kind ist aber auch Symbol für Hoffnung und Erneuerung wie in Albino Magaias Erzählung „Die Liebe aller Tage“, die der Anthologie den Namen gibt. Die Geburt eines Sohnes ist in vielen afrikanischen Gesellschaften immer noch der Mittelpunkt einer Ehe. Traditionell sind die Männer berechtigt, die Ehefrauen zu verstoßen, die nicht gebären können. Zacharias tut es nicht: er liebt seine Frau Ntavasse und hält dem Druck der Gesellschaft stand. Seine Liebe wird belohnt, als nach einiger Zeit doch noch der ersehnte Sohn geboren wird.

Nicht nur diese Erzählung ist ein Beispiel für den tiefgreifenden Wandel in der Behandlung des Themas „Tradition“, den die mosambikanische Literatur in den letzten zwanzig Jahren durchgemacht hat. Sie ist längst kein Allheilmittel mehr gegen alle gesellschaftlichen Übel, die vermeintliches oder tatsächliches Ergebnis der Kolonialzeit sind. Eine Erkenntnis hat sich durchgesetzt: Wenn nötig, kann und muß die Tradition den neuen Umständen angepaßt werden.

„Die Liebe aller Tage“. Erzählungen aus Mosambik. Herausgegeben und aus dem mosambikanischen Portugiesisch übersetzt von Elisa Fuchs und Elsa Fuchs de Melo. Dipa Verlag 1992, 157 Seiten, 38 DM.