piwik no script img

Reue der Freibiergesichter

Handballmeister SG Wallau-Massenheim demontiert den bisherigen Bundesliga-Spitzenreiter TBV Lemgo mit 27:16  ■ Von Matthias Kittmann

Rüsselsheim (taz) — Die Raucherecke in der Walter-Köbel- Halle ist entschieden zu klein. In der Halbzeitpause hat man Mühe, dort noch ein freies Plätzchen zu finden. Der Sportterminus „Spitzenspiel“ hatte 2.700 Zuschauer angelockt, damit war die Halle praktisch ausverkauft. Meister SG Wallau-Massenheim gegen den verlustpunktfreien TBV Lemgo hieß die Paarung dieser Nachholbegegnung des vierten Spieltages.

Einige waren aber auch gekommen, weil sie sich beleidigt fühlten. Hatte doch SG-Manager Bodo Ströhmann von 10.000 „Freibiergesichtern“ gesprochen, die „wohl noch alle im grünen Wald stehen und die Meisterschaft feiern“, anstatt sich bei den Heimspielen einzufinden. Das wollte niemand auf sich sitzen lassen. Sehr zum Leidwesen der Lemgoer, die sich für ihre Demontage sicher weniger Augenzeugen gewünscht hatten. 7:13 zur Halbzeit, 16:27 am Spielende — zack, bumm, bäng, das war's. Doch bevor es losging, wurde man liebevoll daran erinnert, daß Handball ein Dorfsport ist. Beide Mannschaften liefen in blau-weißem Dreß auf. Schließlich schaffte es der Wallauer Zeugwart unter Vernachlässigung dreier roter Ampeln und Aufbrechen eines Spindes, ein paar andere Hosen zu besorgen.

Nun begann das, wovon Lemgos Trainer Lajos Mocsai „tief enttäuscht“ war. Seine hochgelobte Deckung mit vier Zweimeter-Riesen stakste hüftsteif durch die Gegend, und die Wallau-Massenheimer demonstrierten, warum sie Meister wurden — dank einer unglaublich niedrigen Fehlwurfquote. Nach 14 Minuten stand es schon 8:3, Lemgos Keeper Grosser konnte in der ersten Halbzeit lediglich einen Ball abwehren. Auf der anderen Seite lief Enddreißiger Peter Hoffmann wieder zu seiner gefürchteten Form auf. Insgesamt 14 hochkarätige Chancen machte er zunichte.

Im Angriff setzte Mikael Kaellmann mit variablem Rückraumspiel seine Nebenleute nach Belieben ein, und die trafen aus jeder Position. Selbst „Sorgenkind“ Stephan Schoene schoß sich mit vier Treffern wieder ein. Allen voraus war aber Martin Schwalb, der auch in den wenigen kritischen Phasen den Weg zum Tor fand. Achtmal versenkte er den Ball, darunter alle vier Siebenmeter.

Während die Lederkugel elegant durch die Wallauer Reihen wanderte und voll des Wachses und der Freude schmatzte, behandelte Lemgo sie wie einen Fremdkörper. Völlig von der Rolle der 2,11-Meter-Stareinkauf Volker Zerbe, dem nur ein Törchen gelang und der in der zweiten Halbzeit auf der Bank blieb. Als Mitglied der Olympialooser von Barcelona hat er wohl immer noch daran zu knabbern.

„Wallaus Erfolg im Europapokal hat ihr Selbstvertrauen gestärkt“, mutmaßte Lemgo-Trainer Mocsai. Nach einem eher mittelmäßigen Bundesligastart hatte die SFG in der ersten Runde die österreichische Nationalmannschaft alias UHK Wien am letzten Samstag zum Gegner. Dem Sieg im Hinspiel folgte ein deklassierendes 35:18 mit allein 24 Toren in den zweiten dreißig Minuten. Das muß für die Spieler ein Heidenspaß gewesen sein, denn den Lemgoern ging es kaum besser.

Besonderen Unterhaltungswert boten die zahlreichen Tempogegenstöße des kleinsten Wallauers, Olaf Oster. Gäbe es bei den Olympischen Spielen den 40-Meter- Sprint mit anschließendem Torwurf — ihm wäre die Goldmedaille nicht zu nehmen. Oder das verdeckte Hinterm-Ohr-am-Kopf- vorbei-schräg-nach-unten-Anspiel von Mikael Kaellmann auf Kreisläufer Mike Fuhrig — selbst die Besetzer der Pressetribüne sprangen vor Begeisterung auf.

In den letzten fünf Minuten grinsten die Wallauer Spieler vor lauter Spielfreude wie Honigkuchenpferde. Martin Schwalb setzte noch eins drauf, als er mit der Schlußsirene von knapp hinter der Mittellinie den Ball ins linke untere Toreck donnerte.

Mit diesem Spiel im Rücken dürfte der SG Wallau-Massenheim etwas leichter ums Herz werden, wenn sie an ihren nächsten Europapokalgegner denkt: Universitatea Craiova. Das Team aus den Karpaten unterscheidet sich nur unwesentlich von der rumänischen Nationalmannschaft. Da kann es nur von Vorteil sein, wenn Wallau weiterhin das tut, was Lemgos zerknirschter Trainer feststellte: „Wallau spielt in einer anderen Dimension.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen