Kultur aus dem Bunker

In Moskau hat Goethe seine Nöte...  ■ Von Barbara Kerneck

Bevor die bundesrepublikanische Kulturpolitik in der GUS überhaupt begonnen hat, bunkert sie sich in Moskau auch schon ein. Das Goethe-Institut Moskau, das am heutigen Freitag in Anwesenheit von Außenminister Kinkel feierlich eröffnet wird, hockt neben der Konsularabteilung der deutschen Botschaft im klotzigen Betonbau der ehemaligen DDR-Botschaft. Kristallüster, schmiedeeiserne Geländer und gediegene Schrankwände drücken auf die Stimmung der Mitarbeiter. Die russischen Besucher wurden bis vor kurzem argwöhnisch beäugt von den Paßkontrolleuren der Botschaft. Der ist es zu teuer, das Paßkontroll-Büdchen vom Instituts-Eingang wegzuversetzen, weshalb die Goethe-Direktion jetzt einfach einen Zaun zur Konsularabteilung zog und am letzten Montag ein bisher rein symbolisches Gittertor zum Leninski Prospekt öffnete. Trotzig hat Kathinka Dittrich van Weringh, Institutsleiterin, das krötige Gebäude auf das Verzeichnis der Kulturveranstaltungen gedruckt. Nachdem sie alle Architekturbüros und Bezirkskomitees in Moskau abklapperte, kommt sie zu dem Schluß: „Ein anderes Haus wird es nicht geben. Wir müssen Leben in den Bunker bringen.“

Kathinka Dittrich kam im Herbst vor zwei Jahren mit ihrem Ehemann und einem Koffer nach Moskau, wo sie nach eigenen Worten „niemanden kannte und von niemandem erwartet wurde“. Seither hat die Moskauer Goethe-Filiale Vorlauf. Der Tätigkeitsbereich der heute 37 Mitarbeiter umfaßt vorerst noch die ganze GUS und auch die baltischen Staaten. Die erste Tochtergründung wird es Anfang nächsten Jahres in Riga geben. Danach ist Hilfe von Goethe-Instituten in St. Petersburg, Minsk, Kiew und Alma Ata zu erwarten. 66.000 DeutschlehrerInnen sind im Gesamtbereich zu betreuen, sie stehen für neun Millionen Deutschlernende. Bis jetzt wurden GUS-weit 56 Lehrmittelzentren eingerichtet. 1992 vergab das Institut unter anderem 166 Stipendien an Hochschullehrer für Fortbildungskurse in Deutschland. Frau Dittrich, die sich persönlich eher mit der reinen Kulturarbeit des Institutes befaßt, hat als Leiterin des Amsterdamer Goethe-Institutes auch ästhetische Maßstäbe gesetzt, zum Beispiel mit der epochalen Ausstellung „Berlin-Amsterdam“ Anfang der 80er Jahre. Mit Leichtigkeit hat sie in Moskau nun den Aspekt des ehrlichen Maklers in sich selbst entwickelt: „Ich mache hier lieber ein Konzert weniger und stecke die dafür notwendige Energie in eine weitere Verbesserung unserer Informationsarbeit, denn jemandem, der hier Kultur produzieren möchte, nützt die richtige Adresse in Westeuropa bei weitem mehr als die schönste Musik.“ Und so charakterisiert sie ihr kulturelles Umfeld: „Die geistige Geschäftsgrundlage ist hops. Die Künstler der mittleren Generation schütteln sich nach der Diktatur wie Pudel, die aus dem Wasser kommen. Und die Jungen wollen nicht so recht nachwachsen, denn die Spitzweg-Idylle mit Regenschirm im Bett liefert für die Kultur nicht den rechten Humus. Die Schriftsteller leiden unter einer Profilneurose, weil sie als Helden der Nation ausgedient haben. Politik braucht hier heute nicht den Umweg über Literatur.“

Das russische Kultusministerium ist praktisch mittellos, Akademien, Museen und andere Institutionen, die Goethe-Veranstaltungen in ihren Räumen wünschen, können es sich nicht leisten, das deutsche Institut einzuladen, sondern sehen sich gezwungen, Saalmiete zu erheben. Frau Dittrich sucht nach Modellen, die sie der mühsam sich privatisierenden GUS-Kultur anbieten kann. Da kommt zum Beispiel ein Berliner Theatermanager, der sowohl die Realität von Staats- als auch von Privattheatern am eigenen Leibe erfahren hat, nach Minsk und hält dort für die Vertreter von sechs kleinen Theatern ein Seminar ab. Das Goethe-Institut kann selbst kaum Einladungen in die Bundesrepublik aussprechen. Deshalb hilft der Moskauer Stab Vertretern des bundesdeutschen Kulturlebens bei GUS-Aufenthalten mit Rat und Tat — gegen die Auflage, sich der hiesigen Goethe-Schützlinge später bei sich zu Hause in Deutschland anzunehmen.

„Oh Gott, das wird wohl 'ne Grammatik-Stunde — anders geht sowas wohl nicht“, murmelt Eva- Maria Keimel-Metz resigniert, blickt dabei aber unverwandt freundlich aus dunklen Amsel-Augen auf die Probandin, eine russische Hochschuldozentin für Deutsch. Mit einer Reihe von Kolleginnen hat sie sich um eine Anstellung als Ortskraft bei Goethe beworben. Gerade erklärt sie den Schülern eines Experimental-Kurses: „Unser Thema sind heute Personalpronomina im Dativ.“ „Sie hätten lieber sagen sollen: Wir spielen jetzt ein bißchen Zöllner und Schmuggler“, schlägt ihr die Leiterin des Moskauer Sprachprogrammes bei der anschließenden Besprechung vor. „Als ob sie auf die Schlachtbank müssen, gehen diese Frauen mit langjähriger Berufserfahrung zu den Lehrproben“, bedauert sie später: „Keine einzige hat bisher ihre Zustimmung zu einer Video-Aufzeichnung ihrer Stunde gegeben. Es ist für sie völlig neu, auch nach der Ausbildung noch nachzuweisen, daß man etwas kann. Immerhin haben wir es schon geschafft, den Redeanteil der russischen DozentInnen zu senken — anfangs betrug er 95 Prozent.“

Mehr Energien als anderwärts verschlingen in der GUS auch Curriculumplanung und Lehrbuchentwicklung. „Was wir hier an Lehrbüchern vorfanden, gehört samt und sonders auf den Müll“, dekretiert Eva-Maria Keimel-Metz. Nach einem gescheiterten Versuch mit bekannten russischen Lehrbuch-Verfassern hat das Goethe- Institut jetzt eine Kommission aus jungen, unverbrauchten Autoren, aber auch Soziologen und Psychologen zur Erstellung eines neuen Schul-Lehrbuches gebildet. Viele russische Deutschlehrer waren noch nie in dem Land, dessen Sprache sie unterrichten. Die Wünsche für landeskundliche Vorträge aus der Provinz sind von Klischees geprägt. Die Moskauer Goethe- Crew löst das Problem, indem sie der Nachfrage entspricht und diese dabei schöpferisch unterwandert. Beim Vortrag über die Bedeutung des deutschen Weihnachten wird dann eben kein Adventskranz gebunden, sondern Dias belegen den heutigen kommerziellen Charakter des Festes, und ganz unmerklich wird ein Schwenk zu neuen Initiationsriten unserer Gesellschaft und Feierformen wie Straßen- und Nachbarschaftsfesten vollzogen. In Moskau sind die Monate Oktober und November jetzt dem deutschen und russischen Expressionismus gewidmet. Mit einer Malereiausstellung „Tendenzen der 20er Jahre“ im Institut selbst und den Ausstellungen „Graphik des deutschen Expressionismus“ und „Kritische Graphik der Weimarer Zeit“ anderenorts. Johann Kresniks Bremer Tanztheater soll im November mit seiner „Macbeth“- Inszenierung das Fortleben impressionistischer Traditionen demonstrieren. Und die Filme „Berlin, die Sinfonie der Großstadt“ von Ruttmann und „Moskwa“ von Kopalin aus dem gleichen Jahr eröffnen eine Serie von Vorführungen im Kino-Museum, bei denen ein russisches Ensemble historische Filme mit Live-Musik aus ihrer Entstehungszeit begleitet. Hier wird, wie in allen Bereichen der Goethe-Arbeit in Rußland, auf Kontinuität und Gemeinsamkeit zwischen den beiden Ländern gesetzt. Frau Dittrich bezeichnet die finanzielle Ausstattung des Institutes als „großzügig“. Für die nächste Zukunft hat sie nur zwei Wünsche: einmal einen weiteren Ausbau des Film-Archivs, aus dem sich Fans von Witebsk bis Sachalin die 35-mm-Bänder für ihren Klub persönlich abholen und den Weg auch nicht scheuen, um sie — aus Furcht vor der unzuverlässigen Post — eigenfüßig wieder zurückzubringen. Dazu möchte sie noch eine vierte Angestellte für die Bibliothek. Und was wünscht die Autorin dem Moskauer Goethe-Institut? Vielleicht einen Mini-Bus, der es den Besuchern des weit vom Stadtkern abgelegenen Bunkers erspart, an der nächsten U-Bahn Station auch im kommenden harten Winter bis zu fünfzig Minuten auf den Bus zu warten. Auf jeden Fall aber eine Cafeteria.

Zum Eröffnungsprogramm des Institutes gehören auch die ersten Sprachkurse, die allen Moskauern offenstehen sollen. Als am Montag die Einschreibungslisten ausgelegt wurden, belagerten Hunderte von Bürgern das Institut. Wer sich schon um sieben Uhr früh angestellt hatte und über genug Ellbogen verfügte, konnte einen der 230 Kursplätze ergattern. Bei all seinen hohen Ansprüchen sieht sich das Moskauer Goethe-Institut mit einem Publikums-Ansturm konfrontiert, der auch den aufrechten Gang der Mitarbeiter zu bedrohen vermag. Gegen Mittag beschloß ich an diesem Tag, die zitternden Dozenten vorübergehend ihrem Schicksal zu überlassen und mich mit einem Imbiß zu stärken. Die nächste Möglichkeit ergab sich erst zwei Bushaltestellen weiter am Prospekt — allerdings nur für mich als Inhaberin einer ausländischen Kreditkarte in der Filiale einer finnischen Firma. Nicht das Moskauer Goethe-Institut, wohl aber die Geldgeber in Bonn haben sich mit dem „Nein“ zur Eröffnung einer Cafeteria für die Besucher unfaßbar schnell der Mentalität der meisten hiesigen Institutionen angepaßt, deren Motto schon immer lautete: „Wenn die Leute von uns etwas wollen, dann sollen sie auch dafür büßen.“